Sichere Eltern-Kind-Bindung von Anfang an

27. November 2020 - Lifestyle

Wenn ein Paar sich entschließt, gemeinsam eine Familie zu gründen, geht dies mit einschneidenden Veränderungen einher.

babyfuesse-herz

Als Mutter kann ich aus tiefster Überzeugung sagen, dass die Bereicherungen, die ein Paar durch die Geburt und das Begleiten eines Kindes bis ins Erwachsenenalter erlebt, die Herausforderungen bei Weitem überwiegen. Fast nichts ist so herzerwärmend wie strahlende Kinderaugen, selbst nach einer durchwachten Nacht oder ein „Danke für deine Hilfe, Mama, ich hab dich lieb.“ nach erbittertem Streit um die Hausaufgaben.

Aus psychologischer Sicht gibt es verschiedene Lebensbereiche, die entweder als Arbeits- oder Regenerationsfeld eingestuft werden können. Wenn aus einem Paar nun Eltern werden, kommt zu den bisherigen Lebensbereichen „Beruf“, „Paarbeziehung“, „Hobbies/Freizeit“ als neuer Lebensbereich das Familienmanagement dazu, also ein weiteres Arbeitsfeld, das nicht zu unterschätzen ist.

Veränderungen über Veränderungen

Bereits während der Schwangerschaft verändert sich die Paarbeziehung. Die Gesprächsthemen fokussieren sich auf das zukünftige Familienleben, es geht um pränatale Diagnostik, Geburtsklinik oder Geburtshaus, Hebamme, Geburtsvorbereitungskurs, Kindsname, Kinderzimmereinrichtung, diverse Anschaffungen, eventuell Wohnungswechsel usw..  Häufig verändert sich in der Zeit der Schwangerschaft auch die Beziehung zu den eigenen Eltern und zu den Schwiegereltern, oftmals wird sie intensiver, man kommt sich (wieder) näher. Freizeit und Freundeskreis können sich ebenfalls ändern, so suchen werdende Eltern beispielsweise vermehrt Kontakt zu Menschen in der gleichen Lebensphase. Schwangere erleben oft eine Achterbahnfahrt ihrer Gefühle zwischen Glück, Vorfreude und Begeisterung bis hin zu Unsicherheit, Sorgen und Ängsten. Studien belegen, dass sich insbesondere mütterlicher Stress in der Schwangerschaft auf das Ungeborene übertragen kann. Es ist also wichtig, bereits jetzt gut auf seine eigenen Bedürfnisse und seine Grenzen zu achten.

Beziehungsaufbau zum Kind und Paarbeziehung

Neben organisatorischen Themen steht für werdende Eltern der Beziehungsaufbau zum Kind im Bauch im Vordergrund. Nach meiner Erfahrung ist es sehr wichtig, dass die Frauen die werdenden Väter hier aktiv einbeziehen, sie beispielsweise ermuntern, den Bauch mit Babyöl einzureiben oder mit dem Baby zu sprechen und seine ersten Bewegungen im Bauch durch Handauflegen zu spüren. Schon während der Schwangerschaft ist es wichtig, dass sich das Paar ausreichend Zeit nimmt für intensive Gespräche. Miteinander im Austausch bleiben, wissen, was den anderen bewegt und worüber er oder sie sich vielleicht gerade Sorgen macht, ist eine wichtige Basis für einen guten Start in das Leben zu Dritt. Mögliche Themen können sein:

Bindungsforschung

Der Begründer der Bindungstheorie John Bowlby (brit. Kinderpsychiater, Psychoanalytiker) hat Bindung definiert als das „angeborene Bedürfnis von Säuglingen, in bindungsrelevanten Situationen (Bedrohung, Angst, Schmerz) Nähe, Zuwendung und Schutz bei einer vertrauten Person zu suchen.“. Das Bindungsverhalten entwickelt sich im ersten Lebensjahr. Werden Bindungswünsche von den Eltern abgewiesen, verstärkt das Baby sein bindungssuchendes Verhalten (weinen, schreien, festklammern, suchen). Babys entwickeln eine sogenannte „Bindungshierarchie“, das heißt, das Baby hat eine Hauptbindungsperson – das ist die Person, die seine Bedürfnisse am häufigsten zuverlässig erkennt und feinfühlig auf diese Bedürfnisse reagiert.  Diese Hauptbindungsperson kann das Baby in emotionalen Stresssituationen am schnellsten beruhigen. Bei weiteren Bindungspersonen dauert die Beruhigung einfach etwas länger. Insbesondere um Konflikte in der Paarbeziehung (Konkurrenzdenken, Gefühl persönlicher Kränkung) oder Verunsicherung bei der Eingewöhnung in einer Fremdbetreuung zu vermeiden, ist das Wissen um diesen Gesichtspunkt wichtig.

Bindungsstile

Eine weitere Vorreiterin in der Bindungsforschung war Mary Ainsworth. Sie unterscheidet zwischen vier verschiedenen Bindungsstilen, die im sog. „Fremde Situations-Test“ mit 12-18 Monate alten Kindern erforscht wurden. Hierbei beobachtete sie insbesondere die kindliche Reaktion auf eine Trennungssituation von der Mutter sowie auf deren Rückkehr. Außerdem bezog sie die Reaktion des Kindes  auf eine fremde Person in ihre Einteilung ein. Am häufigsten war die sichere Bindung zu beobachten: das Kind weinte bei der Trennung, suchte bei der Rückkehr der Mutter ihren Körperkontakt und ließ sich schnell beruhigen. Bei der unsicher vermeidenden Bindung blieben die Kinder nach außen hin „cool“ bei Trennung und ignorierten die Mutter bei ihrer Rückkehr. Sie regulieren ihren Stress also nicht über die Bezugsperson, sondern klagen beispielsweise häufig über Kopf- oder Bauchweh. Eine unsicher vermeidende Bindung kann durch elterliches Zurückweisen bei Angst entstehen. Die unsicher ambivalente Bindung ist gekennzeichnet durch eine massive Verunsicherung des Kindes bei der Trennung und ein Hin- und Hergerissen-Sein bei der Rückkehr. Einerseits haben die so gebundenen Kinder ein großes Bedürfnis nach Nähe, gleichzeitig sind sie sehr verärgert über die Bezugsperson. Sie lassen sich schwer beruhigen. Unvorhersehbare Reaktionen seitens der Eltern auf kindliches Verhalten (Trost, Schutz, Zurückweisung, Ärger) können diesen Bindungsstil begünstigen. Am seltensten wurde eine desorganisierte Bindung beobachtet. Hier zeigen die Kinder bizarre Verhaltensweisen (Erstarren, stereotype Bewegungen) und Ohnmacht durch sich widersprechende Bindungserfahrungen. Die Bindungsperson bietet also einerseits Sicherheit, ist andererseits aber auch eine Quelle der Angst. Am häufigsten tritt dieser Bindungsstil bei traumabelasteten Eltern auf. Hier ist professionelle Hilfe unerlässlich.

Sichere Bindung

In erster Linie geht es darum, sein Baby mit größtmöglicher Aufmerksamkeit zu beobachten, seine Signale wahrzunehmen und diese richtig zu deuten. Als Eltern schlüpfen wir bildlich gesprochen in die Haut unseres Babys und nehmen die Welt aus seinem Blickwinkel wahr. Eigene Belastungen (z.B. Beziehung, Gesundheit, Geld) oder die Beschäftigung mit eigenen Bedürfnissen (z.B. exzessiver Medienkonsum, Parties, Alkohol) können zu einer verzögerten Wahrnehmung kindlicher Signale führen. Es gilt, auf die Signale unseres Babys möglichst angemessen und feinfühlig, das heißt, liebevoll-annehmend zu reagieren. Bindungsstärkend sind häufiger Blickkontakt, viel Körperkontakt und eine Sprachmelodie, die die Gefühle des Babys spiegelt sowie gemeinsame Interaktionen, beispielsweise auf dem Wickeltisch, beim Füttern oder Spielen. Was ein Kind genau für die Erfüllung seines Bindungswunsches braucht, ist individuell verschieden. Während sich manche durch bloße Anwesenheit und die Stimme der Bindungsperson beruhigen lassen, brauchen andere ein hohes Maß an Körperkontakt. Je jünger das Baby ist, desto wichtiger ist eine prompte Reaktion. Es ist schädlich für die Bindung, Babys lange schreien zu lassen ohne auf ihren Hilferuf (und nichts anderes ist ein Schreien) zu reagieren. Sie lernen durch diese Erfahrung lediglich, dass sie in emotionalen Notsituationen keine Unterstützung zu erwarten haben.  Das bedeutet nicht, dass wir uns 24/7 ausschließlich und sofort um die Bedürfnisse unseres Babys drehen sollten, wir sollten ihm aber klare Signale senden, dass wir seine Bedürfnisse wahrnehmen und uns schnellstMÖGLICH darum kümmern. Die Frustrationstoleranz, d.h. die Zeit, die ein Baby bis zur Erfüllung seiner Bedürfnisse warten kann, steigert sich im Laufe des ersten Lebensjahres. Was Eltern häufig davon abhält, auf die Bedürfnisse ihres Babys prompt zu reagieren, ist der Mythos des Verwöhnens. Wenn ein Kind merkt, dass seine Gefühle wahrgenommen werden, wird es nicht verwöhnt, sondern zufrieden und entwickelt ein Urvertrauen: egal wie ich mich fühle, es ist jemand da, der mich begleitet. Einen besseren Start ins Leben gibt es nicht. Eine gute Bindung ist übrigens keine Frage der Menge an Zeit, die man mit seinem Kind verbringt – hier zählt Qualität deutlich mehr als Quantität!

Gleichzeitig ist es wichtig, dass Eltern auch auf ihre eigenen Bedürfnisse achten und ihre Akkus regelmäßig aufladen. Nur so kann es gelingen, für die Kinder wirklich präsent zu sein. Abschließend ist es mir noch ein großes Anliegen, auf den transgenerativen Aspekt hinzuweisen, das heißt auf die Tatsache, dass Bindungsmuster oft über Generationen weitergegeben haben. Selbst wenn man sich geschworen hat, „Ich werde mal nie so … (impulsiv, ungeduldig, gefühlskalt) … wie meine Mutter/mein Vater!“ sind diese Erfahrungen tief in uns gespeichert. Kinder können mit ihren Verhaltensweisen (z.B. Hilflosigkeit, Weinen, Schreien, Festklammern) bei uns heftige emotionale Reaktionen auslösen (triggern), weil uns genau diese Verhaltensweisen an Erfahrungen aus unserer eigenen Kindheit erinnern (eigene Hilflosigkeit, Angeschrien werden, hart angepackt werden), die wir bis dato erfolgreich in unser Unterbewusstsein verdrängen konnten. Auch hier empfiehlt sich zwingend professionelle Unterstützung, um eine Weitergabe negativer Bindungserfahrungen möglichst frühzeitig zu erkennen und zu unterbrechen.

Ich wünsche allen werdenden Eltern von Herzen alles Gute, Gelassenheit und Freude aneinander. Möge es unzählige bereichernde und beglückende Momente geben und in herausfordernden Zeiten immer Unterstützung durch liebevolle Mitmenschen vorhanden sein.

Autor: Silvia Fritzsch, Heilpraktikerin Psychotherapie
Thema: Sichere Eltern-Kind-Bindung von Anfang an
Webseite: https://www.familie-und-ich-muenchen.de

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