Was bedeutet eigentlich systemisch zu denken

04. Oktober 2020 - Persönlichkeitsentwicklung

„Was nicht weg will, braucht Wertschätzung...“ - Ilka Hoffmann Bisinger -

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Prolog

Unsere Arbeitswelt bewegt sich immer schneller. Immer mehr soll in der gleichen Zeit geschaffen werden. Wir sind digital vernetzt über den gesamten Globus hinweg. Die Grenzen zwischen Privat und Arbeit verschwinden immer mehr. Höher, schneller, weiter führt manchmal eben auch zur Ohnmacht, aus der man aus eigener Kraft nicht mehr hinaus kommt. Wenn sich Menschen dafür entscheiden, sich in diesen Momenten professionelle Begleitung zu holen, begegnet man in der ersten Suche häufig systemischen Coaching- und Beratungsangeboten. Aber was ist eigentlich dieses Systemische und was hab ich davon? 

Ein Dialog versucht mehr Transparenz zu schaffen und mehr Einblick in systemisches Arbeiten und Denken zu ermöglichen.

Systemisches Denken - ein Dialog

Tanja: Wer sind wir denn? Wollen wir uns kurz vorstellen? 

Sarah: 

Das wäre sicher hilfreich. Ich fang gleich mal an: Ich bin Sarah, 40 Jahre alt und gerade mitten drin in einem für mich neuen und aufregenden Lebensabschnitt. Im Ursprung bin ich Diplom-Pädagogin, mein Weg zog mich jedoch mehr in die freie Wirtschaft. In den letzten Jahren war ich Managerin in einem großen Tech-Unternehmen und habe in der Regel zwischen 20-25 Mitarbeiter in direkter Verantwortung begleitet. In den vielen Mitarbeitergesprächen bin ich mit meinen pädagogischen Werkzeugen immer mal wieder an Grenzen gestoßen, denn nicht jedes Gespräch drehte sich um Leistung, Kennzahlen und Weiterentwicklungen. Manchmal waren die Inhalte auch ganz schön persönlich. So kam ich dazu, mich zum systemischen Coach ausbilden zu lassen, um meinen Mitarbeitern eine noch bessere Begleiterin zu sein und ihnen Räume öffnen zu können, zu denen ich vorher keinen Schlüssel hatte. 

Tanja:

Ich bin Tanja, 49 Jahre alt und wohne in Berlin. Seit drei Jahren arbeite ich als selbstständige Beraterin, Therapeutin, Coach, Trainerin. Davor habe ich in verschiedenen Unternehmen in unterschiedlichen Management-Positionen gearbeitet. In meinem ersten Studium habe ich Pädagogik auf Lehramt und verschiedene andere Fächer studiert, danach BWL.

Nachdem ich dann nach vielen Jahren im sogenannten Berufsleben stand, wollte ich nochmals was ganz anderes machen und habe die Weiterbildung zur systemischen Beraterin, Therapeutin und Familientherapeutin an einem renommierten systemischen Institut hier in Berlin abgeschlossen. Das war auf jeden Fall der Durchbruch bei mir, um bewusst systemisch arbeiten zu wollen.

Sarah: 

Das ist schön, dass du das erwähnst, auch für mich hat sich die Sicht auf die Welt durch die systemischen Impulse signifikant verändert. In meiner Arbeit oder wenn ich über die Kraft der Systemik spreche, begegnen mir immer wieder Fragen wie „Was ist eigentlich dieses Systemische?“, „Was ist der Unterschied zwischen einem „normalen“ Coach und einem „systemisch“ arbeitenden Coach?“, „Und was hab ich als Klient*in / Kund*in

davon, wenn ich mich für einen systemischen Coach entscheide.“ 

Daran merke ich, dass systemisch zwar in aller Munde und gleichzeitig aber etwas Diffuses, wenig Greifbares ist. Siehst du das ähnlich?

Tanja: 

Absolut. Und wenn ich daran denke, wie oft ich systemisch im Nachhinein korrigieren muss, weil Autokorrektur oder Spracherkennung immer wieder „systematisch“ vorschlagen, dann gibt es wohl noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Was ist denn systemisch für dich?

Sarah: 

Haha, ja, diese Autokorrektur, die hat systemisch wahrlich noch nicht ins Wörterbuch aufgenommen... Systemisch ist für mich in erster Linie eine ganzheitliche Betrachtung einer Person und dem Rucksack, den er*sie bei sich trägt. Wir alle sind mit mehr oder weniger weisen Worten unserer Eltern aufgewachsen, wie z.B. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, „Der frühe Vogel fängt den Wurm“, „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“... um nur ein paar wenige zu nennen. All das, unsere eigenen Erfahrungen und Erlebnisse, unsere Freundeskreise, Kinder, Familie etc. sind Umgebungen und Beziehungen, eben die verschiedenen Systeme, in denen wir uns bewegen und die unser Tun, Denken und Handeln bestimmen. Wenn ein*e Klient*in mit einem Thema zu mir kommt, höre ich natürlich genau hin und vor allem versuche ich, auf die Zwischentöne zu hören.

Ergänzungen?

Tanja:

Was die Perspektive betrifft, eher keine Ergänzungen. Zur Idee „niemand ist eine Insel” (unbekannte Quelle) hast du glaube ich alles genannt. 

Für mich ist systemisch auch die Vielzahl der Möglichkeiten, mit den vorhandenen Systemen zu agieren: aufzudecken, wenn es Strategien gibt, die entwickelt wurden, um im System (Familie, Beziehung, Job...) zu „überleben“, die heute vielleicht nicht mehr so hilfreich sind, sich perspektivisch mit Lösungswegen zu befassen und einzubeziehen, welchen Anteil das System haben kann/soll, oder eben gerade nicht.

Für mich bilden die unzähligen Methoden und verschiedenen Arbeitsweisen genau das ab. Ich selbst arbeite hauptsächlich, und sehr gerne, ressourcen – und lösungsorientiert.

Hast du denn Lieblingsmethoden und Ansätze?

Sarah: 

Auf jeden Fall hab ich Lieblingsmethoden. Eine davon ist z.B. „Das Innere Team“. Die Methode konnte ich jüngst wieder anwenden und ich bin immer wieder begeistert, wie gut manche Klient*innen in den Kontakt kommen mit ihren inneren Anteilen. Natürlich erscheint das erst einmal etwas abstrakt und natürlich ist nicht jede Methode für jede*n Klient*in gut geeignet und gleichzeitig setzt es unheimlich viel Energie und Erkenntnis frei, wenn sich Klient*innen trauen, die Pakete ganz unten im Rucksack zu öffnen und zu sehen, was man da eigentlich mit sich rumträgt. Manche Gepäckstücke sind gute Ressourcen wie Käse und Wein, die man auf einer Wanderung auspacken kann und sich daran für den weiteren Weg stärken kann. Manchmal ist es aber auch die alte Decke, die man von Oma geerbt hat, die von Motten zerfressen ist, etwas muffig riecht, total schwer ist und derer man sich dann auch mal entledigen und eine neue anschaffen kann, vielleicht eine mit mehr Funktion und vielleicht auch wasserabweisend, haha. 

Um noch einmal auf deine Arbeitsweise einzugehen: ich würde behaupten, dass sich die meisten Systemiker dem ressourcen- und lösungsorientierten Arbeiten verpflichtet haben und genau darin liegt für mich das Besondere am Systemischen. 

Systemisch zu denken bedeutet für mich auch, Menschen ein großes Potenzial an Selbstorganisation zuzutrauen und sie dabei zu bestärken. Ich erlebe Klient*innen oft sehr dankbar, dass sie am Ende einer Sitzung was zum „Mitnehmen“ haben und zwischen den Sitzungen direkt praktisch ins Tun kommen können. So sehen sie ihre eigenen Veränderungen ziemlich schnell und man kann mit den Klient*innen einfacher nach dem Prinzip arbeiten „hat funktioniert - mehr davon“, „hat nicht funktioniert - was genau war schwierig und was kann man anders machen“. Ich nenne das immer die „Macht der kleinen Schritte“. 

Wenn wir gerade bei Macht sind: Wie stehst du zu „der Macht der Unwissenheit“? Und natürlich würde ich von dir auch gern noch hören, was denn deine Lieblingsmethoden sind.

Tanja:

Zu deinen beiden Fragen komme ich sofort. 

Du hast etwas genannt, was mir, unter all den anderen wunderbaren Dingen, die Du hier einbringst, auch sehr wichtig ist: die Leute ins „Tun“ zu bringen, festzustellen, dass sie selbst sehr wohl was verändern können, ihre Selbstwirksamkeit spürbar machen und sich so stärken und eigene Wege finden lassen.

Die Macht der Unwissenheit – finde ich nicht immer ganz leicht. Häufig wollen die Klient*innen schon bei der Kontaktaufnahme möglichst viel an Informationen mitgeben, mit der Idee, dass der Prozess dann schneller, besser, effektiver verläuft.

Ich versuche in den Vorgesprächen möglichst nur herauszufinden, ob ich überhaupt hilfreich sein kann und die Rahmenbedingungen zu klären.

Während des Prozesses weiter den neugierigen Blick zu behalten und nicht permanent eigene Hypothesen aufzustellen, warum etwas wie sein könnte, ist oft nicht leicht. In den Nacharbeiten zu meinen jeweiligen Sitzungen bemerke ich meistens, wenn ich mich auf dem Pfad befinde und stelle dann bewusst wieder auf Anfang.

Schließlich sind wir dazu da, einen Raum zu bereiten und den Prozess zu gestalten, aber die Lösung kann nie von uns kommen.

Lieblingsmethoden – ich finde Aufstellungen mit dem Systembrett immer wieder aufs Neue faszinierend.

Nicht nur, dass man alle möglichen Themen, Zusammenhänge, Systeme, oder auch Ressourcen aufstellen kann, die Möglichkeit der Distanzierung hilft den meisten Klient*innen zu mehr Klarheit, Sicherheit, einem Perspektivwechsel und im Laufe der Arbeit zu einer Lösungsidee.

Zurück zur Ausgangsfrage – wie geht es dir denn mit der Macht des Nichtwissens? Und ich frage mich auch, ob wir vielleicht noch irgendwelche Begriffe für die Leser*innen erklären müssten?

Sarah: 

Wenn ich an meine Anfänge in der Arbeit als Coach denke, hatte ich mit der „Macht des Nichtwissens“ ehrlich gesagt Schwierigkeiten, weil ich es gewohnt war, schnell in Thematiken einzusteigen und ebenso schnell Lösung zu finden. Erst mit der Zeit habe ich die Kraft des Nichtwissens erkannt und die Möglichkeiten, die sich als Coach/ Therapeut*in/Berater*in daraus ergeben. Heute sehe ich es auch, wie du es schon erwähnt hattest, als Chance mit frischen und neugierigem Blick auf eine Thematik zu schauen und dadurch den Klient*innen zu helfen nicht nur die Bäume, sondern auch den Wald wieder sehen zu können. Systemisch zu denken bedeutet auch als Expert*in die Perspektiven anderer zu respektieren und eben nicht genau zu wissen, was das Beste für das Gegenüber ist. Systemisch handeln steht für mich für die Unterstützung bei der Suche nach für den*die Klient*innen passenden Lösungen und für die Hilfe bei der Erweiterung des Spektrums der möglichen Handlungsalternativen.

Du hattest gesagt, dass du in der ersten Sitzung versuchst, herauszufinden, ob du überhaupt hilfreich sein kannst. Ich finde es wichtig, dass dies hier Erwähnung findet, denn auch das hat etwas mit systemischem Denken und Handeln zu tun. Auch Klient*in und Berater*in fügen sich in ihrer Arbeit zu einem System zusammen in das jeder etwas Persönliches mit hineinbringt. Hakt die Beziehung, ist das wie Sand im Getriebe und für alle Beteiligten nicht wertvoll. Wie merkst du, ob du hilfreich sein kannst? Und was passiert, wenn du merkst, dass du wahrscheinlich nicht hilfreich sein kannst oder wirst?

Tanja:

Du hattest gefragt, woran ich fest mache, ob ich hilfreich sein kann, und was passiert, wenn ich denke, ich kann es nicht.

Ich biete prinzipiell ein telefonisches Vorgespräch an und manchmal geht es darüber auch nicht hinaus. Meist liegt es hier an Erwartungshaltungen der Klienti*nnen, die ich nicht erfüllen kann/will. 

Zum Beispiel fragen manche Unternehmen nach Coachings oder Workshops mit einem festgelegten Ziel. Das kann ich nicht bieten, da ich nicht weiß, wie sich Prozesse entwickeln und ich das als unseriös empfinde, so etwas zuzusagen. 

Ein anderer Fall ist, wenn ich Anfragen für Beratung/Coaching/Therapie bekomme, zu denen mehrere Beteiligte kommen sollen, jedoch nicht alle am Prozess teilnehmen möchten. Da schlage ich dann andere Formen vor, die mit den freiwillig Beteiligten möglich sind.

Ansonsten habe ich auch Grenzen bei bestimmten (politischen) Haltungen oder (Problem-) Ausgangslagen, bei denen ich andere Unterstützung (zum Beispiel medizinische) für besser erachte oder ich nicht mehr neutral sein kann.

Gibt es Aufträge, die du ablehnen würdest? Inwieweit hat das etwas mit systemischem Denken zu tun, frage ich mich gerade selbst.

Sarah: 

Bisher ist mir noch kein Thema begegnet, welches ich abgelehnt habe bzw. abgeben musste, aber sicher hätte ich mit bestimmten politischen Haltungen auch meine Schwierigkeiten, neutral zu bleiben. Und ich glaube genau darum geht es beim Systemischen. Wir können als Begleiter*innen in einem Prozess so neutral und objektiv wie möglich sein, gleichzeitig wissen wir, dass auch wir keine Insel sind und von unseren

Werten, Glaubenssätzen, Weltsichten und unseren Erfahrungen in zwischenmenschlichen Interaktionen geprägt sind. Daher bleibt es aus meiner Sicht gar nicht aus, dass jeder Prozess auch eine gewisse individuelle Färbung erhält. Professionalität zeigt sich hier meiner Meinung nach auch dadurch, die eigenen Grenzen, Überzeugungen und blinde Flecken gut zu kennen und sich selbst nicht in emotional stürmische Gewässer zu navigieren oder noch schlimmer, die eigenen Überzeugungen auf die Klient*innen projizieren zu wollen, um sie auf den „rechten Weg“ zurückzubringen. Jeder hat das Recht, da zu sein wo er*sie ist und nur die Klient*innen selbst entscheiden, wohin sie hingehen möchten und wie schnell oder langsam sie dahin kommen.

Tanja, ich hab das Gefühl, dass wir bis hierhin einen guten ersten Einblick in Systemisches Denken geschaffen haben. Ich bin mir sicher, dass einige Leser*innen vielleicht noch Fragen haben. Vielleicht sind auch manche Begriffe aus unserer „Fachsprache“ auch noch nicht ganz klar. Für Klärung, Spezifizierung und Fortführung sind wir absolut offen und laden sie ein, in den Dialog mit uns zu treten.

Tanja:

Dann bleibt nur noch zu sagen:

Alle Menschen sind klug - die einen vorher, die anderen nachher. - Voltaire -

sarah mueller tanja martin

Autoren: Sarah Müller & Tanja Martin
Thema: Systemisches Denken
Webseiten: https://www.sarah-mueller-coaching.comhttps://tanja-martin-beratung-coaching.de

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