Warum wir streiten, wie wir streiten.
“Wir müssen an unserer Streitkultur arbeiten”. Diesen Satz höre ich sicher bei mindestens 7 von 10 Paaren, die zu mir zu einem Erstgespräch kommen. Oder “Kommunikationsprobleme”, die verzweifelte Partner dazu bringen ernsthaft eine Trennung zu erwägen. “Wir lieben einander, aber wenn wieder so ein Wochenende vorüber ist, an dem wir uns abwechselnd angeschrieen, angeschwiegen, vermieden und provoziert haben denke ich immer, dass ich nicht die Kraft habe, es weiter miteinander zu versuchen.”
Wir sind kreativ als Menschen, wenn es darum geht zu streiten. Das geflügelte Wort meiner Großeltern, bei denen sich um “des Kaisers Bart” gestritten wurde geht mir dann durch den Kopf. Woran mag es liegen, dass wir uns über fast alles streiten können, wenn wir uns erstmal warm gelaufen haben?
Manchmal ist Streit nur die Spitze des Eisberges
Um es gleich vorweg zu schicken: ich bin nicht einer von den Paartherapeuten, die glauben, dass es “immer zwei” braucht. Es gibt Situationen, in denen sich eine*r der Partner*innen schlichtweg inakzeptabel verhält. In denen ein Konflikt unvermeidlich ist, weil das Thema zu wichtig und eine Fortsetzung des Status Quo unmöglich ist.
Auch gibt es Situationen, in denen man sich nicht in Verhandlungen über Kommunikation oder Streit begeben sollte, da die Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Paarkommunikaton bzw.- therapie fehlen. Der Amerikanische Paartherapeut Terence Real definiert diese Hinderungsgründe folgendermassen:
- Sucht bei einer/einem oder beiden Partner*innen
- Gewalt in der Beziehung
- Unbehandelte psychische Erkrankungen, wie Depressionen, Psychosen oder psychische Störungen anderer Art
- Sexuelles “acting out”, also das Ausleben von mit der Beziehung nicht vereinbaren sexuellen Verhaltensweisen, ob innerhalb oder ausserhalb der Beziehung
Diese Punkte müssen in einer Beziehung vorab behandelt werden, bei der Person, die betroffen ist, weil ansonsten eine Therapie oder eine selbstverhandelte Änderung im Streitverhalten keine nachhaltige Chance hat.
Verletzlichkeit ist oft ein stärkerer Grund als Aggression
Aber bei der Mehrzahl der Menschen, die eine Paartherapie anstreben sind die Probleme, was Streit angeht, anders gelagert. Wenn sie beschreiben, wie das nicht enden wollende Streitwochenende begonnen hat, sind oft die Gründe gar nicht mehr nachzuvollziehen: wer hat wann, was gesagt? Wer hat begonnen, wer reagiert? Woran sich die Leute erinnern ist eine nicht enden wollende Dynamik des Streites, in der ein Wort immer das nächste gibt und kein Wort das letzte sein darf. Weitere Nachfragen ergeben dann oft, dass sich beide Beteiligten irgendwo als Opfer der Situation sehen und das Klärungsgespräch droht zu entgleisen, weil man einander beweisen will, dass die andere Seite im Unrecht ist. Wenn man genau zuhört, ist es auch sehr oft ein Gefühl der Verletzung bzw. der Verletzlichkeit das einen Streit auslöst und nicht der Wille zur Aggression oder ein Angriff.
Isabel und Klaus kommen zum ersten Mal zu mir in die Praxis, zu einem unverbindlichen Kennenlern-Termin. Mit einem 3-jährigen Jungen und seiner 1-jährigen, kleinen Schwester, sind die beiden jungen Eltern gerade in einer sehr angespannten Phase ihrer Beziehung. Gut ausgeschlafen haben sie schon lange nicht mehr und zur nächtlichen Anstrengung kommen die täglichen Anspannungen. Noch sind die Kinder zu klein um miteinander zu spielen und der kleine Junge scheint auch den Verlust der ausschliesslichen Aufmerksamkeit seiner Eltern noch nicht ganz verschmerzt zu haben. Wie bei vielen Paaren hat auch die berufliche Dynamik der beiden, mit der Ankunft der Kinder verschoben: sie hatten sich geeinigt, dass Klaus, nach einer kurzen Elternpause, derjenige sein würde, der vorerst Vollzeit für die finanzielle Sicherheit der Familie sorgen würde und waren auch froh, dass seine berufliche Situation es ihnen erlauben würde, sich Zeit zu lassen mit der Entscheidung, wann Isabel in ihren Beruf zurückkehren würde und wie intensiv sie das dann betreiben wolle. Diese Entscheidung war beiden leicht gefallen, sie wollten ihren Kindern eine sichere und zuverlässige Basis bieten und auch die frühe Bindung, die als Voraussetzung für ihre gute, langfristige Entwicklung bekannt ist.
Sie hatten sich die Kinder gewünscht und sie zu einem Zeitpunkt bekommen, der zu ihrem Lebensplan passte. Eigentlich dürfte es keine Probleme geben, sie wären doch priviligiert vielen anderen Paaren gegenüber, die sich so eine freie und sichere Familienplanung nicht leisten könnten. Und doch käme es immer wieder zu anstrengenden, langen und zermürbenden Streitereien, lauten Wortgefechten und verletzenden Diskussionen. Auf meine Nachfrage hin kommt zu Tage, dass sowohl Klaus als auch Isabel sich nicht verstanden fühlen.
„Ich will nicht streiten“, meint Klaus. „Wenn es zu viel wird und ich ihr etwas Freiraum verschaffen will, ziehe ich mich zurück. Ich nehme die Kinder und gehe in den Garten oder das Kinderzimmer um ihr die Luft zu geben, sich zu beruhigen. Sie sagt ja immer, dass sie nur noch Kinder um die Ohren hat...“ - „Das ist wieder so typisch; als ob ich emotional überdreht wäre und mich beruhigen müsste. Was ich meine ist, dass ich mal echte Unterstützung von ihm bräuchte und nicht diese symbolischen Entlastungs- Viertelstündchen“, entrüstet sich Isabel. „Was ich brauche ist einen Mann an meiner Seite, der es auch mal aushält, wenn ich müde, erschöpft oder – oh mein Gott - sogar mal sauer bin. Aber das packt er ja nicht, da ist er ja sofort aus der Türe...“ Klaus verdreht die Augen: „Womit wir mal wieder beim Thema wären; ich bin kein 'richtiger Mann', nur weil ich diesen aggressiven Ton und die ewigen Nörgeleien nicht mehr mitmachen will. Ich meine, ich arbeite den ganzen Tag und habe die gesamte finanzielle Verantwortung für uns alle, darf mir aber anhören, dass sie einen Mann an ihrer Seite vermisst.“ „Sehen sie, was ich meine? Ich bin total erschöpft und ausgelaugt von 100% Kinder, Kinder, Kinder und er wirft mir vor, dass ich nicht beitragen würde, dass er ja die ganze Verantwortung trägt...“
Spätestens zu diesem Zeitpunkt denke ich, dass ich dieses Gespräch schon vor mehreren Minuten hätte unterbrechen sollen, aber die Fetzen fliegen buchstäblich so schnell, dass man es sogar als Aussenstehender erst bemerkt, wenn man schon mitten drin ist.
Bindungsmuster
Was hier passiert ist nennen wir ein Bindungsmuster: während die beiden so miteinander beschäftigt sind, werden sie zusammenbleiben. Diese Art von Kampf und Streit beansprucht so viel Energie, dass keine*r der Partner*innen nach aussen schaut, z.B. nach anderen attraktiven Alternativen. Dafür ist keine Kapazität mehr frei. Solche Paare trennen sich erst, wenn ein Gefühl des Desinteresses oder der Aufgabe aufkommt. Paradoxer Weise fühlen sich diese Paare sicher in der unschönen Dynamik. Sie geniessen die Beziehung zwar nicht, aber sie verlassen sich auf sie. Deswegen begegnen einem auch Paare, die seit vielen Jahren so miteinander umgehen. Es macht zwar keinen Spass, aber es ist zuverlässig.
Wenn man ein solches Beziehungsmuster genauer ansieht kann man ziemlich gut nachvollziehen wie es funktioniert. Wie bereits erwähnt gibt es einen Anteil in beiden Personen, der sich als Opfer sieht.
Bei Klaus könnte der sich in diesem Fall ungefähr so ausdrücken: „Ich arbeite den ganzen Tag und trage so zu unserem Familienleben bei und das wird nicht gesehen oder gewürdigt. Im Gegenteil, mir werden auch noch Vorwürfe gemacht. Ich möchte mal sehen, welche anderen Männer neben der Arbeit so viel im Haushalt machen wir ich.“
Isabel würde ihre Aufopferung vielleicht so beschreiben: “Also, dass ich meinen Beruf für die Familie aufgeben würde war ja sowieso klar. Da wurde nicht lange überlegt. Und jetzt sieht keiner, dass ich als Mutter 24 Stunden am Tag für alle anderen zur Verfügung stehe und wie anstrengend das ist. Im Gegenteil, ich soll auch noch dankbar sein dafür, dass jemand anderes die finanzielle Seite übernommen hat...“
Beide sind enttäuscht und fühlen sich in ihrer Position evtl. unverstanden und ungerecht beurteilt oder behandelt. Das aktiviert („triggert“) bei ihnen einen Persönlichkeitsanteil, der viel jünger ist als die beiden Erwachsenen Menschen, die sich auf diese erotische Beziehung eingelassen haben. Unter- oder sogar unbewusste emotionale Erinnerungen an frühere, kindliche Zustände werden ausgelöst, Empfindungen des ausgeliefert-seins, der ungerechten Behandlung durch Eltern oder andere Erwachsene im Kindesalter, des angegriffen-werdens oder des sich-beweisen-müssens. Diese „Erinnerungen“ lösen aber auch einen anderen Reflex in uns aus: den uns zu verteidigen, gegen diese ungerechten Vorwürfe und Anforderungen und dafür greifen wir auf einen anderen Anteil unserer selbst zurück, der auch tief verinnerlicht ist. Die massregelnden, vorwurfsvollen und strafenden Eltern bzw. Autoritäten, die wir, genau wie die verletzlichen Kinderanteile, mit in die Beziehung gebracht haben. Diese kindlichen Anteile rufen sozusagen die Eltern zur Hilfe in diesem Disput. Und so kommet es zu einer Dynamik, die Streit befeuert und verselbstständigt, ohne Rücksicht auf Inhalt oder einen offenen Blick für Lösung, dafür aber mit einem hohen Anteil an Hilflosigkeit und Aggressivität. Hier kann man noch zwischen passiver und aktiver Aggression unterscheiden, die zwar völlig unterschiedlich aussehen, aber in ihrer Wirkung ähnlich sind. Ob ich mein Gegenüber beschimpfe oder mit Verachtung, schweigend, strafe, löst dieselbe, erniedrigte Empfindung aus.
Die Endlos-Schleife...
Diese Dynamik lässt sich gut graphisch veranschaulichen:
Hier ein vereinfachtes Beispiel wie so ein Streit funktioniert. Im Prinzip das selbe, was Klaus und Isabel auch vorgemacht haben.
Dialog auf Augenhöhe: 2 gleichberechtigte Erwachsene haben eine Unterhaltung.
A, (Erwachsen): „Du, die Spülmachine ist fertig. Die müsste ausgeräumt werden.“
B (Erwachsen): „Ja, habe ich gesehen. Ich habe gerade etwas anderes zu tun.“
Der Empfänger wechselt: Das Kind in A empfindet Bs Aussage als Ansage, die Spülmaschine auszuräumen und denkt sich, „ich habe es gestern gemacht, es ist nicht fair, dass ich heute schon wieder dran sein soll.“
Der Hilferuf: Das Kind in A wendet sich an die Autorität. „Hilfe, beschütze mich vor dieser unfairen Forderung von B“
A (Autoritär, bestraft das Kind in B): „Findest du es wohl in Ordnung, dass ich die ganze Hausarbeit mache?“
B fühlt sich ungerecht angegriffen, hat es doch gar nicht so gemeint, ruft um Hilfe.
B (Autoritär, bestraft das Kind in A): „Mit dir kann man überhaupt nicht sachlich reden, immer wirst du gleich sauer...“ Hilferuf
A (Autoritär, bestraft das Kind in B): „Also Moment mal, ich habe nur gefragt ob du das fair findest, wer wird hier gleich emotional?“
Hilferuf
B (Autoritär, bestraft das Kind in A): „Du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass das eine ganz normale Frage war, du verdrehst mal wieder die Tatsachen, so wie es dir bequem ist“
Hilferuf
A (Autoritär, bestraft das Kind in B): „Ich verdrehe die Tatsachen? Alles was ich gemacht habe ist festzustellen, dass das Geschirr weggeräumt werden muss und dass ich es gestern gemacht habe. Darauf hin bist du aggressiv geworden!“
usw.usw
Wenn man die Graphik ansieht erkennt man eine liegende 8 in der Form der Gesprächsführung, die in der Mathematik für Unendlich und im allgemeinen Schriftgebrauch als Symbol für die Ehe steht – bemerkenswert.
Diese Dynamik kann sich dann sehr schnell aufschaukeln und nimmt Fahrt auf. Sie zu bremsen ist unwahrscheinlich schwer, weil sich hier keine sachlichen Erwachsenen mehr begegnen, sondern nur verletzte Kinder und strafende Eltern. Und seien wir mal ehrlich, strafende Eltern sind auch nicht gerade souverän. Die Art der Verletzlichkeiten ist meist stark von unsere Herkunftsfamilie geprägt. Wenn ich dort nie ernst genommen wurde, werde ich mich auch heute leichter nicht ernst genommen fühlen und darauf empfindlich reagieren. Wenn ich ungerecht bestraft wurde, werde ich sehr dünnhäutig auf empfundene Ungerechtigkeiten reagieren. Wenn meine Geschwister immer bevorzugt wurden habe ich evtl. eine hohe Sensibilität gegenüber Zurücksetzungen etc..
Meine Erfahrung ist, dass sich ein großer Teil von Streitigkeiten zwischen Partnern so erklären lässt und dass es hilft, sich dieses Model, was aus der Transaktionsanalyse stammt, anzusehen und zu verstehen. Paare sollten ihre eigene Version dieser Dynamik nachvollziehen und einander beschreiben, in welche verletzlichen Zustände sie jeweils besonders bereitwillig geraten. Einen persönlichen Namen für diese Dynamik zu finden, die sie für uns als Paar beschreibt, ist hilfreich, weil wir dann in der erhöhten Erregung der Streitsituation schneller wissen worum es geht. „Wir streiten mal wieder um die Teller in der Spülmaschine“ kann dann sozusagen als Signal, als „safe word“, für uns funktionieren, damit wir beide wieder in die Realität zurück finden. Die Frage „in welcher meiner Wunden werden deine Worte besonders schnell zu Salz“ ist nützlich, da praktisch jede Aussage das Potential hat, so missdeutet zu werden. Ich kann diesen Streit am besten verhindern, indem ich mir bewusst werde, dass mein*e Partner*in mich wahrscheinlich nicht angreifen möchte, sondern dass ich vielleicht gerade in eine Verteidigungshaltung gehe, weil ein alter Schmerz in mir getriggert wurde, den ich schon mit mir trug bevor wir uns überhaupt kennen gelernt haben.
… und wie man sie unterbricht
In der konkreten Situation helfen oft folgende Schritte:
- Benennen der Situation, „safe word“(„Wir streiten mal wieder um die Teller in der Spülmaschine“)
- Verantwortung für die Situation übernehmen: „Ich bin jetzt zu aufgebracht um vernünftig mit dir zu reden. Ich brauche jetzt eine Pause, in der ich mich um meine Gefühle kümmern werde. Danach komme ich zu dir zurück, ich renne jetzt nicht weg und ich lasse dich auch nicht im Stich damit.“
- Aus der Situation gehen, für eine begrenzte, vorher verabredete Zeit. Dann tatsächlich an der Beruhigung der Gefühle arbeiten. Bewegung hilft Adrenalin abzubauen, was ich im Streit aufgebaut habe. Man tut dies mit dem Ziel später besser und ruhiger miteinander reden zu können.
- Zurück kommen um dem Partner die Verlässlichkeit zu demonstrieren. Wenn das Thema nicht mehr wichtig erscheint, das Thema beenden. Wenn es noch wichtig erscheint, verabreden später darüber zu reden. Den Grundsatz „Ich will nicht Recht behalten sondern in Beziehung leben“ beherzigen.
- Dieses Verhalten wiederholen, falls der Streit sofort wieder aufflammt. Wenn wir das 3 mal wiederholt haben, dann werden wir uns der Absurdität der Situation bewusst, wir werden Humor entwickeln. Wenn jedes Mal 20 Minuten gekostet hat sind wir nach einer Stunde durch. Ansonsten können wir den Rest des Abends weiter streiten. Das lohnt doch, oder?
Grundsätzlich finde ich es immer hilfreich sich Unterstützung bei Streitverhalten zu suchen, das sich chronifiziert hat, also immer wieder störend und destruktiv unsere Beziehung beeinflusst. Manchmal sind ein paar Sitzungen so hilfreich für kleine Veränderungen, die oft große Wirkung zeigen können.
Wenn allerdings andere Gründe zum Streit führen, wie ständige Dominanz eines Partners oder einer Partnerin, dann müssen diese Verhaltensweisen besprochen, analysiert und verändert werden!
Aber dann ist es auch nicht ein Streit „um des Kaisers Bart“.
Autor: Ingo Vauk
Thema: Streit in der Beziehung
Webseite: http://www.therapie-wirkt.com