Bei archäologischen Fundstücken oder historischen Texten ist es schwierig festzulegen, ob diese authentisch sind oder nicht.
Die jeweiligen Forscher*innen haben Kategorien für die Wahrscheinlichkeit entwickelt. Bei Gemälden ist es eine fast unmögliche Aufgabe für Museen, Kunstwissenschaftler*innen und Restaurator*innen, das Original von der Fälschung zu unterscheiden: Aktive Fälscher*innen arbeiten dagegen.
In der Kunst ist Authentizität nicht eine Eigenschaft, die einem Text, Foto oder Film innewohnt, sondern das Ergebnis der Wahrnehmung der Betrachtenden; somit subjektiv. In der Musik hängt dieser Unterschied nicht nur von den Komponist*innen ab, sondern auch von der aktuellen Mode, dem Musikstil und dem Hörerkreis einer Stilrichtung. Hier kommt es auf die Inszenierung an: Wie, wo, von wem mit welcher Ankündigung und welchem Rahmenprogramm wird ein Konzert gegeben, eine Modenschau, ein Film, eine Ausstellung gezeigt? Bemerken die Zuschauenden die Absicht des Anbietenden oder ist diese verborgen? Hier kommt es auf die Wechselwirkung zwischen Künstler*innen und Rezipient*innen an und darauf, ob die Künstler*innen sich an einen Regelkanon halten mit ihrem Werk oder ob sie Kunst als Selbsterkundung betreiben, in die sie die Rezipient*innen mitnehmen. Das (authentische) Extrem ist das Entstehen von Kunst vor den Augen der Zuschauer*innen, z.B. als Performance.
Im Volksmund meint Echtheit, dass es keinen Gegensatz gibt von „Schein und Sein“. Für das Gegenteil, dass beides auseinander fällt, gibt es – regional verschieden – viele Sprüche, z.B.: „Außen hui und innen pfui!“ Damit rutscht die Betrachtung in eine Kategorie des Rechtes: Betrug oder Ehrlichkeit? Was machen der Versicherungsverkäufer oder der Antiquitätenhändler an meiner Wohnungstür: Ein seriöses Angebot oder einen Betrug, den ich als Laie nicht durchschauen kann? Was ist, wenn mir die Bank versichert, dass ihre Kredite zu 1,75% „echt günstig“ seien? Ich weiß, dass andere Banken zurzeit Kredite zu 1% geben. Ist das „echt“ oder ist es nur ihr bester Kredit und sie vergleichen dieses Angebot mit eigenen anderen Krediten? Der Grat zwischen Ehrlichkeit, Geschäftsgebaren und Betrug ist hier sehr schmal – und verbittert die Opfer dieser Art von „echten Geschäften“. Dazu gehört manchmal auch die Frage: Machen Kleider Leute? Spielt mir hier einer Wohlhabenheit und Seriosität vor? Verdecken Statussymbole den eigentlichen Menschen? Haben die beiden überhaupt etwas miteinander zu tun?
Eine Übersteigerung in der Berichterstattung, also zwar nicht gelogen, aber nur das Interessanteste, das Teuerste, das Bedeutendste herausgestrichen oder eben das Schrecklichste statt des Normalen ist schon seit mehr als hundert Jahren üblich: Nur eine schlechte Nachricht ist eine gute Nachricht! Einerseits haben wir uns in dieser langen Zeit daran gewöhnt, dass die Medien auf diese Weise nicht „die Wahrheit“ abbilden, andererseits suchen viele Menschen auch in den Medien immer wieder nach Wahrheiten und fühlen sich betrogen wenn sie, oft im persönlichen Einzelfall, die Übersteigerung entdecken – oder die Unmöglichkeit mit einer Alltagsgeschichte in der Presse anzukommen. Das führt dann auf die eine oder andere Weise zum Vorwurf der „Lügenpresse“.
Es gab, besonders nach dem deutsch-deutschen Diskurs der 1990er Jahre über Auftreten, Kultur, Marketing und politische Versprechungen besonders im Osten Menschen, die sagten: „Lieber ehrlich gemeckert als unehrlich geschleimt“. Der Spruch sollte die mangelnden Umgangsformen einiger Ostdeutscher gegenüber der Glätte und Professionalität einiger Westdeutscher rechtfertigen. Hier spielte der Anspruch der Authentizität herein, dass es bei ihr nicht nur um die positiv-vorzeigbaren Seiten einer Person geht, sondern auch um deren Schattenseiten. Personen, die nur ihre „Schokoladenseite“ präsentieren, galten eben als nicht authentisch, weil alle wissen, dass es nicht nur diese gibt.
In der Psychologie und Pädagogik meint „authentisch sein“, nach den eigenen Werten oder nach ethischen Grundüberzeugungen zu leben und diese anderen zu zeigen. Problematisch ist , dass diese vielen nicht bewusst sind. Unser Wissen über uns selbst ist meist recht begrenzt (außer wenn wir die Reflexion darüber beruflich betreiben): Viele Menschen würden als ihren ethischen Kodex vielleicht einen Auszug aus den Zehn Geboten angeben: nicht lügen (außer in Extremsituationen), nicht stehlen (außer in großer Not), nicht morden, nicht andere schädigen durch üble Nachrede – und noch einige andere Regeln. Daraus ergibt sich die Frage: Kann jemand authentisch sein, der die Grundüberzeugungen und Motive des eigenen Handelns nicht reflektiert hat?
Das ist einer der Gründe, weshalb in der Psychologie und der sozialen Arbeit Weiterbildung und Supervision eine so große Rolle spielen, denn woher sollte das Wissen um die Ethik und die eigene Motivationslage sonst kommen?
Eine schüchterne junge Frau sagte zu mir: „Im Vorstellungsgespräch habe ich versucht, extrovertiert zu wirken, dadurch habe ich die Stelle bekommen!“ Hat sie also gelogen? Oder war sie besonders authentisch, weil sie die Einschätzung anderer Menschen über sich und evtl. ihre Schattenseite, die Schüchternheit, gut kannte? Sie hat das Gespräch erfolgreich inszeniert. Arbeitgeber wissen, dass Vorstellungsgespräche Inszenierungen sind: Kleidung, Makeup, Auftreten, die zuvor eingereichte Bewerbungsmappe bzw. diese als PDF.
Dass es sich dabei um Inszenierungen, also um Kunstwerke handelt, weiß jede*r, der schon einmal das Gegenteil erlebt hat: Völlig overdressed beim Vorstand eines kleinen Vereins oder einer kirchlichen Einrichtung vorgesprochen zu haben, wo alle in Jeans dasitzen und einen gleich duzen. In solchen Einrichtungen gilt nicht die Inszenierung als authentisch sondern der „Mensch an sich“, das scheinbar nackte „archäologische Fundstück“ ohne seine Deutung. Hier gilt der Gegensatz von „Schein und Sein“, der das Leben durchaus nicht erleichtert.
Wann bin ich authentisch? Früh beim Aufwachen? Nackt im Badezimmer? Nur als Säugling? Kommt der Mensch als gleichsam sauberes, weißes Blatt auf die Welt, ganz und gar echt? Diese Idee ist längst verworfen: Genetisches und soziales Erbe sowie die Erlebnisse in der Schwangerschaft machen schon den Säugling zum kulturellen, geprägten Wesen.
Welche Rolle spielt Erziehung dabei? Bin ich nach der Erziehung durch Familie und Schule noch echt und zuverlässig? Erziehung ist kein Überschreiben eines ursprünglich weißen Blattes sondern ein Entdecken und Herausholen von Fähigkeiten. Ich behaupte, dass sie uns im besten Fall authentischer machen kann als wir es „unerzogen“ waren.
Wichtiger als in der Kunst empfinde ich die Frage der Authentizität in Gesprächen, besonders in Beratungsgesprächen – also solchen mit einem sehr geringen Anteil an Inszenierung. Die entstehen dann, wenn Menschen sich an irgendeinem Punkt des Lebens nicht selbst zu helfen wissen. Das kann eine finanzielle Lage sein, eine psychische oder familiäre, eine Erfahrung durch die Extreme des Lebens wie Krankheit, Behinderung, Depression oder Tod naher Menschen geprägt.
Wer in einer solchen Not ist, möchte meist, dass ihm/ihr jemand zuhört und danach bei der Klärung des Problems oft auch praktisch hilft. Die Person die leidet, ist authentisch. Im Leiden ist der Mensch oft nicht fähig zur Inszenierung. Die Person die berät hingegen, sollte empathisch sein: zuhören, sich einfühlen, Geduld haben usw.
In Alltagsgesprächen läuft das oft anders: Jemand sagt freudig „Ich habe Karten für das Konzert X/das Spiel Y!“ und möchte gern von seinem/ihrem Glück erzählen. Aber das Gegenüber nimmt diese Information als Stichwort für die eigene (durchaus authentische) Erzählung: Was für Glück oder Unglück er/sie schon einmal mit einer ähnlichen Kartenbeschaffung hatte. Das Muster funktioniert auch mit Urlaubserzählungen oder mit Klagen über die pubertierenden Kinder oder die schlechte Qualität der Reinigungsarbeiten im Haus. Meist gehen die Gesprächspartner*innen danach ziemlich unbefriedigt auseinander – obwohl beide authentisch waren.
Im Beratungsgespräch (auch unter Freund*innen) soll es deshalb anders laufen, hier ist die Waage zu halten zwischen authentisch sein und empathisch sein. Authentisch bin ich ganz bei mir, empathisch ganz beim Anderen. Der/die Hilfesuchende benötigt es dringend, dass jemand für einige Zeit ganz bei ihm/ihr ist! Er/sie fragt sich nicht, wie es den Zuhörenden jetzt geht, ob ihnen die Geschichte zu lang ist, sie vielleicht schon Kaffeedurst haben, ob die Stühle bequem genug sind. Leidende haben das Anrecht, all dies nicht zu bedenken, sondern frei von ihrem Problem erzählen zu dürfen. Das erfordert von den Zuhörenden, die eigene Authentizität wegzustecken und auf die Seite der Empathie zu wechseln.
Nicht nur in der Beratung, auch im Alltag wechseln wir ständig zwischen beiden Polen hin und her: Eben hören wir noch selbstlos unserem Kind zu, was uns von der Schikane einer Mitschülerin berichtet, versuchen zu trösten, zu beraten und danach sind wir ganz schnell bei uns selbst und checken unsere WhatsApp auf der Suche nach einer Antwort auf unsere Fragen. Beides ist völlig in Ordnung, außer wenn es möglicherweise berechnend oder krankhaft wird. Die Überspitzung des einen ist die Egozentrik (keinem mehr zuhören, außer er/sie nützt mir etwas), die des anderen ist die Anbiederung (wenn ich die/der beste Zuhörer*in und Tröster*in bin werden mich alle mögen).
Wie schief ein Gespräch gehen kann, wenn Menschen sich keine Gedanken machen um das Verhältnis von Authentizität und Empathie, erlebte ich kürzlich in einem Tante-Emma-Laden: so einem, in welchem vor allem alte Leute gern einen Schwatz machen; also eigentlich neben dem Einkauf ein Beratungsgespräch suchen. Die Kundin vor mir erzählte vom Tod ihres Sohnes, der ihr sehr nah ging. Wie nah bemerkte ich daran, dass sie mich nicht wahrnahm, nicht für Abstand und Datenschutz sorgte. Sie ließ einfach ihren Kummer gehen, Herz und Zunge liefen ihr (authentisch) über. Die passende Reaktion der Verkäuferin, die hier natürlich zusätzlich Beraterin war, unabhängig ob das in ihrem Arbeitsvertrag steht oder nicht, wäre Empathie gewesen: zuhören, trösten, die Hand berühren … Aber die Dame war ganz bei sich, so authentisch, dass mir der Atem stockte. Sie antwortete: „Da hat er es aber gut in diesen furchtbaren Zeiten, dass er diese nicht mehr erleben muss!“ Sie war bei ihrer Einschätzung der Realität, nicht beim Kummer der Kundin.
Hier wäre, wenn die Verkäuferin bemerkt hätte, dass sie kein Interesse an dieser Art Kundengesprächen hat, ein wenig Inszenierung hilfreich gewesen: Eine empathische Geste, ein Weiterschicken an eine Beratungsstelle. Auch das hätte als echt/ ehrlich empfunden werden können. Denn „wie jemandem der Schnabel gewachsen ist“ ist entgegen der volkstümlichen Meinung weder hilfreich noch „echt“. Authentisch zu sein kann also sowohl als selbstbewusst als auch als Frechheit bewertet werden. Also: Seien Sie beides! Authentisch allein macht keine Freundschaft.
Autor: Dr. Angelika Weirauch
Thema: Was bedeutet authentisch sein?
Webseite: http://www.weirauch.eu