Vielleicht sind Sie schon einmal einer Person begegnet, die Lärm und großen Menschenmengen auswich oder jemandem, der scheinbar ewig nachtragend erschien.
Oder haben Sie jemanden in Ihrem Umfeld, der schnell genervt ist, weil die Lampe einen Summton hat oder seine Socken rutschen? Eventuell erinnern Sie sich auch an die eine Kollegin, die immer einen „Riecher“ hatte, für Stimmungen und Probleme und für alle anderen da war – nur nicht für sich selbst.
Dann haben Sie wahrscheinlich Kontakt zu jemandem, der hochsensibel ist. Das ist sogar sehr wahrscheinlich, denn die gängige Literatur spricht von etwa 15 – 20% aller Menschen, die hochsensibel sind. Vielleicht war Ihr Kontakt aber auch nur sehr empfindlich oder gar Sie selbst?
Was ist Hochsensibilität?
Es ist bereits viel darüber geschrieben worden. Wolfgang Klages hat sein Werk „der sensible Mensch“ 1978 veröffentlicht und auch C.G. Jung hatte bereits zuvor über sensible Menschen berichtet. Elaine Aron erforschte die Hochsensibilität in den USA und brachte 1996 mit ihrem Buch „The Highly Sensitive Person – How To Thrive When the World Overwhelmes You" (im Deutschen: Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen) das Thema in die Öffentlichkeit.
Aktuell gibt es eine Debatte, die die Hochsensibilität eher als Traumafolgestörung sieht, statt als Disposition, also Persönlichkeitsmerkmal. Ich denke, beides ist richtig und möglicherweise bedingt das eine sogar das andere. Schaut man in die Ahnengalerie der Hochsensiblen, werden sich so gut wie immer weitere hochsensible Vorfahren finden. Lauscht man der Geschichte – vor allem der frühkindlichen – der hochsensiblen Person, findet man häufig nicht adäquat bewältigte Entwicklungsphasen. Und sicherlich haben auch normal sensible Personen in ihrer Kindheit Phasen durchlebt, die nicht optimal verlaufen sind.
Also sind hochsensible Personen leichter verletzbar oder neigen sogar zur Traumatisierung? Ich bin überzeugt davon!
Warum ist das so?
Menschen verarbeiten pro Sekunde ca. 11 Millionen Sinneseindrücke in ihrem Gehirn. Davon nimmt ein normal sensibler Mensch nur ca. 40 Sinneseindrücke bewusst wahr. Diese Filterung soll vor Überlastung des Gehirns schützen. Die meisten anderen Informationen werden im Unbewussten abgespeichert.
Man geht davon aus, das Hochsensible Personen eine Art von Filterverschiebung haben. Das bedeutet, dass sie deutlich mehr als 40 Sinnesreize pro Sekunde aufnehmen und entsprechend auch verarbeiten müssen. Das bedeutet auch, dass der Schutzmechanismus erst verspätet eingreift und der hochsensible Mensch von der Flut der wahrgenommenen und zu verarbeitenden Informationen wahrscheinlich sehr oft überlastet ist. Diese Veränderung der Filtereigenschaften ist weder an- noch wegtrainierbar. Es ist ein feststehendes Persönlichkeitsmerkmal, wie z.B. Kreativität oder Extrovertiertheit auch.
Woran erkennt man, wer dieses Persönlichkeitsmerkmal der Hochsensibilität hat?
Schauen wir uns doch die Merkmale an, die diese Charaktereigenschaft ausmacht:
1.) Die sensorische Empfindlichkeit
Viele Hochsensible Personen (HSP) haben ein oder zwei Erfolgsorgane. Hier zeigt sich die Hochsensibilität am meisten. Manch einer ist auf allen Sinnesorgan-Ebenen empfindlicher als der Durchschnitt. Bei den allermeisten, wenn nicht bei allen Hochsensiblen, ist vor allem das Gehör betroffen. Dies hat Elaine Aron bereits nachgewiesen. Die Filterverschiebung lässt das Gehör empfindlicher auf Töne reagieren: so werden z.B. Töne wahrgenommen, die viele andere nicht hören oder die Lautstärke von Stimmen oder Geräuschen kann körperlich bedrohlich auf HSP wirken.
Einige HSP empfinden Gerüche deutlich stärker und verknüpfen Erinnerungen oder Lernaufgaben mit ihnen. Bei vielen HSP ist die Haut ein sehr sensibles Organ, ist es doch auch die erste Ich-Umwelt-Grenze und zeigt deutlich, wie es der Person im Inneren geht. Denken wir nur an die Neurodermitis oder an hektische Flecken. So werden viele Stoffe auf der Haut nicht ertragen oder bestimmte Berührungen abgelehnt, weil sie zu anstrengend für das Nervensystem der HSP sind. HSP haben häufig eine gute visuelle Auffassungsgabe und viele einen guten Geschmack, um eine Situation oder das Wohnzimmer stimmig zu gestalten. Sie sehen, hier entstehen auch Begabungen, die bereichernd eingesetzt werden können!
2.) Die Empathie
Aufgrund der Vielzahl an Informationen sollte man meinen, dass HSP eher mit sich beschäftigt sind. Das stimmt nur zum Teil. HSP brauchen mehr Pausen, um die Informationen zu verarbeiten und sie neigen auch dazu, sich selbst in Frage zu stellen und sich in Verbindung zum „großen Ganzen“ zu reflektieren. Allerdings sind sie mindestens genauso oft, wenn nicht noch öfter im „Außen“. Manchmal neigen sie dazu, sich zu sehr in den anderen oder in die Situation hinein zu steigern, sich mit dem einen oder der anderen zu identifizieren oder / und die aktuelle Stimmungslage oder Situation auf sich zu beziehen, so als wären sie der Auslöser oder sogar „schuld“ daran.
HSP scheinen sich im Sammeln von Informationen, im Beobachten und Analysieren selbst ein wenig zu verlieren. Dafür können sie sehr gut Stimmungen wahrnehmen, haben eine gute Intuition und ein hohes Maß an Empathie. Eine HSP hat den Drang, eine Situation für alle passend zu gestalten, auch wenn sie mit der eigentlichen Situation gar nichts zu tun hat.
Deshalb fühlen sich HSP in größeren Gruppen eher unwohl, zum einen gibt es zu viele Aspekte aufzunehmen, zu anderen fühlen sie sich häufig nicht zugehörig und unpassend. In kleinen, eher vertrauten Gruppen fallen sie als tiefgründige und nachdenkliche Personen auf.
3.) Die emotionale Intensität
Dieser veränderte Informationsfilter bringt mit sich, dass HSP eine tiefere Art von Empfindung erleben. So können Wahrnehmungen oder Erlebnisse deutlich intensiver aufgefasst werden. Das ist besonders schön, wenn es um beeindruckende Begegnungen geht oder um die Farbtiefe in Träumen. Es ist furchtbar, wenn es um Beziehungskonflikte geht oder darum, sich abgelehnt zu fühlen. HSP beschreiben Emotionen als überwältigend und riesig, selten regulierbar. Sie können tiefe Freude und Dankbarkeit bei kleinsten Begebenheiten empfinden und ebenso groß das Gefühl von Einsamkeit, Andersartigkeit und Nicht-dazu-gehörend.
Bei vielen ist der Gerechtigkeitssinn deutlich vorhanden, denn es gibt ein ausgeprägtes ethisches Empfinden, wie Menschen miteinander und mit anderen Lebewesen umgehen sollten. Unhöfliches und schroffes Verhalten wirkt verletzend auf die meisten HSP. Manchmal verteidigen sie dann die angegriffene Person oder flüchten schlagartig aus der Situation. Selbst wenn sie ein solches Verhalten nur beobachten, verbinden sie sich gerne mit dem Betroffenen emotional und fühlen sich längere Zeit bedrückt und betroffen.
4.) Die Übererregbarkeit
Das Nervensystem des Menschen ist durch eine wellenförmige Bewegung gekennzeichnet. Es hat Phasen der Stimulation (ergotrophe Phase) und Phasen der Regeneration (trophotrope Phase). Hochsensible Personen neigen durch die Informationsüberforderung zu einer Überstimulation, die sie häufig nicht reguliert bekommen und dann lieber einfach weiter funktionieren anstatt sich zu entspannen. Sie steuern sich damit in eine Art von Kollaps anstelle von einem regulierten Entspannungszustand, der ihnen wieder zu Kraft verhelfen könnte. Sie sind dann sehr erschöpft, ziehen sich zurück, wirken schlecht gelaunt, depressiv oder auch aggressiv. Bei vielen HSP drückt sich diese ständige Übererregung zusätzlich über den Körper aus, z.B. in Allergien oder Migräne. Vielleicht denken Sie jetzt bei Überstimulation an einen Altstadtbummel in der Großstadt? Ja, der auch, aber es beginnt schon viel eher.
Für HSP gibt es, mehr als für normal sensible Menschen, eine im Inneren stark ausgeprägte Tagesform. Diese ist abhängig von vielen Einflüssen, wie Beziehungszustand, Schlafqualität, Stressoren wie Hunger, Hitze, Lärm etc. Diese Tagesform nimmt Bezug zum "Chaos im Kopf", das sich durch 1000 Gedanken um eine Situation ergibt, so z.B. kann schon das fehlende Grüßen des Vorgesetzten eine solche Situation sein. Hier werden alle Informationen aufgenommen, analysiert und in Beziehung zu sich selbst gesetzt:
„welchen Grund könnte es geben, dass der Vorgesetzte nicht grüßt – was war gestern, beim letzten Treffen, wer könnte was erzählt, evtl. falsch aufgefasst haben, wird unpassende Kleidung getragen, hat die HSP im falschen Moment geredet“ und dergleichen mehr.
Es fällt HSP schwer, eine Begebenheit neutral zu betrachten. Vielmehr wird jede Situation in Sekundenbruchteilen bewertet und das eigene Verhalten korrigiert. Der "Autokorrekturmodus" läuft immer mit, was noch so triviale Situationen kompliziert erscheinen lässt - und für alle sehr anstrengend ist.
Nicht zuletzt wird die ganze Welt so wahrgenommen, als dass sie wie durch ein Brennglas auf das Leben einer HSP heruntergebrochen wird. Vor allem schlechte Nachrichten oder negative Spekulationen werden direkt reflektiert und häufig als Bedrohung für die Berechtigung der eigenen Existenz wahrgenommen; so irreal das auch erscheinen mag.
Diese Unsicherheit, die persönliche Betroffenheit und die zu verarbeitende Informationsfülle lassen HSP oftmals scheu, introvertiert oder verschlossen wirken. Vor allem, wenn diese Situationen zur gleichen Zeit gehäuft erscheinen.
5.) Das Nachhallen
Manche HSP haben ein geradezu elefantöses Gedächtnis. Hier geht es nicht (nur) um die Anhäufung von faktischem Wissen, sondern um das Erinnern von Eindrücken und Empfindungen, die sich wie "eingebrannt" zu haben scheinen.
„Nur“ – da viele HSP auch dazu neigen, ihren Kopf mit viel Wissen zu füttern.
Situationen, Begegnungen, Gespräche oder Bilder hallen, vermutlich durch die kompliziertere Informationsverarbeitung und tiefere, vielleicht auch zahlreichere sensorische und emotionale Verknüpfungen, lange nach und sind häufig noch dauerhaft sehr präsent. Dadurch wirken HSP manchmal nachtragend oder besserwisserisch. Diese Details wirken auf den dominanten sensorischen Ebenen (z.B. erscheinen erinnerte Bilder, sie fühlen sich emotional in den Moment zurückversetzt) über einen sehr langen Zeitraum umfassend auf die HSP ein.
Das ist häufig belastend, durch negativ besetzte Erinnerungen und dadurch, dass HSP dazu neigen, das Gegebene mit sich in Zusammenhang zu setzen. Hier ergeben sich leider Teufelsspiralen von nachhallenden Erinnerungen und dem unguten Gefühl, daran maßgebend beteiligt zu sein. Diese münden nicht selten in Rückzug und Selbstzweifel.
Im Übrigen scheinen HSP auch eine veränderte Schmerzwahrnehmung zu haben und sie reagieren häufig verändert auf Medikamente. Einige wirken bei geringsten Dosierungen, andere erst bei Verdopplung.
Erst wenn alle Punkte erfüllt sind, sprechen wir von einer HSP. Sind nur einige oder gar nur ein Kriterium erfüllt, handelt es sich eher um eine sensible oder sensiblere Person. Und doch ist die Bandbreite der Kriterien sehr groß. So kann eine HSP eine feine Musikalität besitzen und vielleicht weil sie so versunken und verbunden mit dem Klang ist, wenig empathisch wirken oder ein anderer scheint ständig polternd und unfreundlich – vielleicht aufgrund seiner ständigen Übererregung. Dann gibt es die, die so Harmonie-suchend sind, dass sie kaum eigene Grenzen und schon gar kein „Nein“ kennen, da sie fast ausschließlich im „Außen“ sind. Und es gibt jene, die, obgleich sie eine wundervolle Arbeit vollbringen und ein „Rundum-Sorglos-Paket“ für ihre Kunden anbieten, von sich glauben, keinen Fokus halten zu können.
Ich glaube, dass es nicht wichtig ist, zu wissen, ob eine von vornherein hochsensible Person das Licht der Welt erblickt hat oder ob durch belastende Erfahrungen in der kindlichen Entwicklung sich eine Art von Traumafolgestörung in der Persönlichkeitsbildung eingenistet hat. Selbstverständlich sollten Traumata und ihre Folgen bearbeitet und integriert werden. Das gleiche gilt für ein Persönlichkeitsmerkmal, welches belastet, blockiert und Leid verursacht.
Außerdem bin ich überzeugt davon, dass unsere Welt mehr Sensibilität braucht!
Das heißt: unsere Gesellschaft gewinnt
- durch Personen, die empfindsam und damit berührbar und authentisch sind
- durch Personen, die sich in andere Personen hineindenken und sich in ihre Position versetzen
- durch Personen, die Gefühle zulassen können und nicht nur rational sind
- durch Personen, deren Nervensystem schon frühzeitig anspringt und denen Ethik und Moral ein hohes Gut ist
- durch Personen, die durch gemachte Erfahrungen die Gegenwart und die Zukunft feinsinnig gestalten
Hochsensibilität ist ein Persönlichkeitsmerkmal neben vielen anderen auch, die ebenfalls zur gleichen Zeit vorhanden sind. Sie kann zu einer besonderen Eigenschaft werden, wenn wir sie akzeptieren, integrieren und nutzbar machen.
Autor: Claudia Heberling, Heilpraktikerin für Psychotherapie
Thema: Was zeichnet hochsensible Menschen aus?
Webseite: https://www.balancepunkte.de