Hochsensiblität – Fluch und Segen zugleich?

Was mögen hochsensible Menschen nicht?

Hochsensiblität, Hochsensitivät, Hochbegabung… alles Schlagworte des neuen Jahrtausends?

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Mögliche Ursachen und Vorkommen der Hochsensibilität

Das Phänomen der Hochsensibilität (High-Sensitivity) wurde laut Psychomeda[1] von der US-amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron Ende der 1990er beschrieben und untersucht.

Was aber ist bei hochsensiblen Menschen (HSP = highly sensitive persons) so anders?

Aron sieht die Reaktion auf Reize als zentralen Punkt: HSPs verarbeiten Informationen intensiver und sorgfältiger. Reize hinterlassen, so Aron, dadurch einen tieferen Eindruck und führen auch schneller zu Reizüberflutungen.  Eine ZDF-Dokumentation 2017 titelte und brachte es auf den Punkt: Hochsensible Menschen – Fühlen ohne Filter[2]

Nach Schätzungen von Aron sind 20% der Menschen weltweit von Hochsensibilität betroffen. Eine genetische Disposition wird als ursächlich angesehen. Die tägliche Praxis zeigt, dass hochsensible Menschen häufig oft über Traumata in der Kindheit und Adoleszenz berichten.

Kritiker sehen in der Hochsensibilität kein neues Erklärungsmodell, sie verweisen auf AD(H)S (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom), Labilität, Depressionen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen oder Hochbegabung.

Symptome und Anzeichen für Hochsensibilität nach Aron sind:

  • Überempfindlichkeit für Schmerzen, Koffein oder Medikamente
  • HSPs fühlen sich unwohl, wenn viele Dinge gleichzeitig passieren
  • Sie haben viel Fantasie, beschäftigen sich intensiv mit dem eigenen Innenleben
  • Sie strengen sich besonders an, um keine Fehler zu begehen und
  • vermeiden aufwühlende Filme oder chaotische Veranstaltungen
  • Sie werden schnell durch die Stimmung anderer Menschen beeinflusst
  • HSPs waren oft bereits als Kind schüchtern und sensibel

Empfehlungen für Hochsensible

Um Reizüberflutungen zu vermeiden, ist es wichtig, um die eigene Hochsensibilität zu wissen. Mehr Ruhe und Zeit für sich selbst und die Anpassung des Lebensstils hilft, die Vorteile der Hochsensibilität für sich und andere zu nutzen. HSPs

  • denken sorgfältiger und genauer
  • erkennen Gefahren und Unstimmigkeiten schneller
  • sind kreativer und empfindsamer

Eine bewusste Lebensführung unterstützen diese Besonderheiten. Pflegt die hochsensible Person einen offenen Umgang mit sich und Anderen, stärkt dies das eigene Selbstvertrauen und die Zuversicht. Es erklärt sich oftmals berufliches oder privates Scheitern in der Rückschau vor dem Hintergrund der Hochsensibilität.

Folgen des Nicht-Erkennens

Das ständige Gefühl der „Andersartigkeit“ wühlt sehr viele HSPs  auf und erzeugt Grübeln, Rückzug, ständiges Infragestellen, persönliche Abwertungen, aber auch psychosomatische Symptome, die sich z. B. äußern können in Kopf-, Nacken-, Rückenschmerzen, Migräne, Regelbeschwerden, Verdauungsprobleme etc.. Zudem erleben sie auch im Außen, wie oft sie belächelt werden oder als Sonderlinge, Heulsusen, Prinzessin auf der Erbse und vieles mehr, betitelt werden. Sehr deutlich sind diese Zuschreibungen an HSPs im westlichen Kulturraum zu finden. Männliche HSPs haben oft besonders mit Zuschreibungen zu kämpfen, die so gar nicht in die Vorstellungen des starken, erfolgreichen, kämpferischen Mannes passen, wie zum Beispiel Weichei, Bübchen…

Je mehr Lebensjahre die hochsensiblen Menschen mit diesen Attributen über sich selbst verbracht haben, umso mehr Beschwerden im gesundheitlichen und sozialen Kontext können sich eingestellt haben. Erschwerend kommt eine Berufstätigkeit hinzu, die sehr stark fremdgesteuert ist, die Bedürfnisse vieler Menschen gleichzeitig berücksichtigen muss, von  starken sensitiven Eindrücken geprägt ist (Gerüche, grelles Licht, Lärm, enge Raumverhältnisse, starke Temperaturen..), im Schichtdienst gearbeitet werden muss, etc…

Viele Menschen, die von ihrer Hochsensibilität nichts wissen, sich immer nur gewundert haben, warum sie so anders sind, hilft dieses Erklärungsmodell und es stellt sich große Erleichterung ein, dass Symptome und Empfindungen einen „Namen“ bekommen.

Ist Hochsensibilität eine Erkrankung?

Hochsensibilität ist keine Erkrankung, sie wird nicht im ICD-10[3] (engl. International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) der WHO kodiert. Sie ist eine Besonderheit menschlichen Seins, ein Persönlichkeitsmerkmal, welches sich in ausgeprägter Empathie und gutem Gespür anderen Menschen oder Situationen gegenüber zeigt. Vergesellschaftet sich die Hochsensibilität allerdings mit psychischen oder somatoformen Störungen, kann die Begleitung durch Fachexperten angezeigt sein.

Was ist es nun, was einen hochsensiblen Menschen an seine Grenzen bringt, was er als anstrengend oder nervig erlebt oder was er ganz einfach nicht mag?

Die klassischen Sinne des Menschen

Die Sinne dienen uns Menschen zur Wahrnehmung, unsere Werkzeuge zur Sinneswahrnehmung sind die Sinnesorgane, wie z. B. Sehen/Auge, Hören/Ohr, Tasten/Haut, Riechen/Nase. Die Sinne als „Einfallstor der Reize“ sind ursächlich für die Reizüberflutung bei hochsensiblen Menschen.

Riechen: Starke unangenehme, aber auch angenehme Gerüche: z.B. Parfüms, Körperpflegemittel, Wasch- und Reinigungsmittel, verdorbene Lebensmittel, z. B.. Fisch oder Fleisch, Körperausscheidungen, verschmutzte Bäder oder Toiletten oder Küchen, starke Räucherstäbchen oder Duftlampen, Raumsprays…

Sehen: Stroboskoplicht, zu grelles Licht, flackerndes Licht, schnell alternierendes Licht bei TV-Bildschirme, Video, PC, Spielekonsolen, aufwühlende Inhalte eines Buches oder Films, Kino mit…

Hören: nervige immer gleiche Geräusche, z. B. tropfender Wasserhahn, laute Nachbarn, Verkehrslärm, Maschinenlärm, Partylärm, Streit und Konflikte, hohe Geräuschkulisse am Arbeitsplatz….

Schmecken: stark Gewürztes, verdorbene, faulige, schimmelige Lebensmittel, zu sehr gesüßte Speisen, scharfe Speisen, glibbrige Nahrungsmittel, wie z. B. Austern, Muscheln, zu kalte oder zu heiße Speisen oder Getränke…

Tasten: raue Oberflächen, Bärte beim Partner, Druckempfinden durch zu enge Kleidung oder Schuhwerk, Kratzige Kleidung, enge Räumlichkeiten, außergewöhnliche Temperaturen z.B. Hitze oder Kälte, starke Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht, hohe Luftfeuchtigkeit, Wetterwechsel…

Betrachten wir die Thematik „was hochsensible Menschen nicht mögen“ finden wir auch in der 12-Sinne-Lehre von Steiner sehr interessante Ansätze. Denn hochsensible Menschen (Hochsensibel zu sein, meint eine erhöhte Empfindsamkeit unserer fünf körperlichen Sinne: Sehen, Hören, Spüren, Riechen und Schmecken) nehmen noch viel mehr wahr, als die bereits durch Aristoteles beschriebenen oben genannten 5 Sinne.

Bereits 1916 hat der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, in seiner Sinneslehrenoch noch weitere 7 Sinne beschrieben. Katharina Offenborn hat in Anthroposophie Lebensnah[4] nach Auszügen und Büchern Fr. Dr. med. Michaela Glöckler die Steiner‘schen Sinne zusammengestellt:

Der Tastsinn vermittelt Geborgenheit durch Körperkontakt, Existenzvertrauen Probleme bekommt ein hochsensibles Kind wenn es nur versorgt, aber nicht umsorgt wird. Wenn es vernachlässigt oder aber auch überbehütet wird und wenn es übergriffige Berührungen erfährt.

Der Lebenssinn vermittelt Harmonie, Empfinden der Stimmigkeit. Für Hochsensible stellen Streit in der Familie oder bei der Arbeit, Gewalt, aber auch Gewaltszenen in TV/Kino,  Ängstigung, Hetze, Zeitdruck, Schreck, Unzufriedenheit, Maßlosigkeit, Nervosität sehr große Herausforderungen dar.

Der Eigenbewegungssinn gibt uns Aufschluss über die Wahrnehmung der eigenen Bewegung, über unser Freiheitserlebnis und Gefühl der Selbstbeherrschung infolge der Beherrschung des Bewegungsspiels.

Schädlich erleben HSPs: Maßregeln, Abwesenheit von identitätsstiftenden Menschen, Passivität durch TV-Konsum, PC, Spielekonsole, unterdrückte Aktivität. Erleben von Gleichgewicht, Ausgleich, Ruhepunkte, Selbstvertrauen finden wir im Gleichgewichtssinn. Starrheit, wenig Bewegung – innerlich wie äußerlich, Innere Unruhe, Überdruss, Resignation, Depression, innere Zerrissenheit, all das erleben HSPs als belastend.

Der Geruchssinn erzielt für uns Verbundenheit mit dem Duftstoff. Allerdings werden schlecht belüftete Räume, Geruchsbelästigungen, siehe Abschnitt oben unter „Riechen“, ekelerregende Eindrücke und Verhaltensweisen sehr störend wahrgenommen.

Der Geschmackssinn erzielt zusammen mit dem Geruchssinn differenzierte Geschmackskompositionen. Somit sind Geschmacksverstärker, künstliche Aromen nicht von Vorteil. Aber nicht der nur der Geschmack, sondern auch Geschmacklosigkeiten in Bemerkungen und Taktlosigkeiten, oder auch unästhetische Umgebungen z. B. Arbeitsplatz, Wohnung, Hotel…

Im Sehsinn erleben HSPs die Fixierung durch destruktive oder „dumme“ Bilder, grelle Farben, düstere Stimmung, farblos-triste Umgebung, Interessenlosigkeit, Fernseh- und Computer-Abusus als sehr störend.

Im Wärmesinn steht das Wärme- und Kälte-Erleben im Vordergrund, deshalb sind übertriebene Abhärtungsmaßnahmen, z. B. Kaltes Duschen, Überlebenstrainings  bei Kälte oder Hitze, überheizte Räume, unzureichende Bekleidung, kalte und unpersönliche Atmosphäre oder auch übertriebene oder unechte „Herzlichkeit“ für HSPs eher kontraproduktiv.

Im Hörsinn nach Steiner geht es nicht nur um Tonerlebnisse; Erschließen des seelischen Innenraumes, sondern auch um akustische Überforderung insbesondere durch Medien (zu laut, zu schnell, zu lang, nicht persönlich-menschlich), oberflächliches Daherreden, unmenschlicher Tonfall (Schreien, Brüllen…)

Interessant ist auch der Wortsinn, der für Gestalt- und Physiognomie-Erleben (Gestaltsinn) und das Erfassen von Körpersprache und Lautgestaltung eines Wortes zuständig ist.

Erlebt der HSP mangelndes Übereinstimmen von Wort und Handlung, kühles, neutrales Verhalten, bei dem das Kind nie recht weiß, ob die Eltern fröhlich, traurig, zugewandt oder in Wirklichkeit abwesend sind, aber auch doppelbödiges Reden, bei dem Inneres und Äußeres nicht zur Deckung kommen, erlebt er viele sich widersprechende Informationen, die die Reizüberflutung forcieren.

Für unmittelbares Sinnerfassen eines Gedankenzusammenhanges steht der Gedankensinn. Wohingegen sinnlose Handlungen, verworrenes, unkoordiniertes Denken, stimmungsabhängiges Verdrehen von Sinnzusammenhängen den HSPs höchst beanspruchen kann.

Ganz besonders ist auch der Ich-Sinn, der für Wesenserfahrung, unmittelbares Erleben und Erkennen des anderen Menschen als „Ich“ notwendig ist. Deshalb ist Desinteresse, Nichtachtung, in Abwesenheit schlecht über andere reden, Medienkonsum und Umgang mit virtuellen Realitäten, bei denen keine reale Wesenserfahrung gemacht werden kann und materialistische Vorstellungen sehr belastend für HSPs.

Eine große Herausforderung für hochsensible Menschen stellen folgende Aktivitäten dar

  • Reisen, die vorwiegend fremdgesteuert sind, z. B. Geschäftsreisen oder Gruppenreisen oder die
  • Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Hier gibt es gleich mehrere Sinnesempfindungen, die als überfordernd erlebt werden können, z. B. überfüllter Zug bei Hitze mit starken angenehmen und unangenehmen Geruchseindrücken und Geräuschen
  • Fehlende Rückzugsräume, (Cave: „zu viel“ Rückzug kann auch immer wieder Einsamkeit bedeuten)
  • „Groß-Events, z. B. große Shoppingtour an einem Weihnachtssamstag in der Stadt mit der Familie
  • Zu hohe emotionale Nähe zu Menschen kann überflutend wirken
  • Mannschaftssportarten, überfülltes Fitnessstudio

Es klingt wie ein Widerspruch, aber die Praxis zeigt es:

Interessanterweise findet man die Hochsensibilität vergesellschaftet mit dem Phänomen des Sensation Seekings (sensation engl. = Sinneseindruck, Empfindung; seeking engl. = suchen). Einerseits benötigt der hochsensible Mensch Ruhe und Rückzug, andererseits fällt eine über die Lebensspanne relativ stabile Persönlichkeitseigenschaft auf: das Streben nach abwechslungsreichen Erlebnissen und Erfahrungen, spannenden Entdeckungen und intensiven Gefühlen.

Schlussbemerkung

Alles in allem klingt es, als wäre das Leben eines hochsensiblen Menschen in westlichen Kulturraum sehr sehr anstrengend und ressorucenkonsumierend. Das ist es in vielen Fällen auch. Dennoch: Die bunte Vielfalt, die Wortgewandtheit, die Darstellung in Wort und Bild, die Ausdrucksfähigkeit, die Empathie, die Spürigkeit, und noch viel viel mehr– all dies ist die wunderbare andere Seite der Hochsensibilität.

Autor: Petra Kirstein, Heilpraktikerin für Psychotherapie in Esslingen
Thema: Was mögen Hochsensible Menschen nicht
Webseite: https://www.psychotherapie-kirstein.de

Quellen:

[1] Hochsensibilität - Lexikon der Psychologie | Psychomeda

[2] Hochsensible Menschen - Fühlen ohne Filter - ZDFmediathek, Zugriff am 14.11.2022

[3] ICD-10-GM-2022 Code Suche (icd-code.de), Zugriff am 03.11.2022

[4] Zwölf Sinnestätigkeiten - Anthroposophie-Lebensnah.de, Zugriff am 03.11.2022

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