Erlernte Hilflosigkeit – Gefangen zwischen Passivität und Selbstbeschränkung

Viele Menschen lieben Überraschungen, aber wie oft werden wir negativ überrascht?

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Situationen entwickeln sich anders als erwartet oder Ereignisse treten ein, mit denen wir nicht gerechnet haben und lassen uns hilflos zurück. – Dieser Text beschreibt, was in uns passiert, wenn wir uns von etwas überrollt und wehrlos fühlen. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Frage, wie wir resilienter werden und lernen können, besser mit unerwarteten Herausforderungen umzugehen.

Leider gehört es zum menschlichen Leben dazu, dass uns schlimme und dramatische Ereignisse ereilen: ein Unfall, eine plötzliche Krankheit, ein Verlust, ganz gleich ob wir selbst so etwas erfahren, es beobachten oder ein geliebter Mensch betroffen ist, hier ist es normal, dass wir überfordert sind und Zeit brauchen, das Erlebte zu integrieren. Wer ein Trauma erlebt, ist gut beraten, sich Hilfe und Trost zu holen, ggf. bei einem Therapeuten oder einer Therapeutin.

In meiner täglichen Praxis erlebe ich allerdings, dass viele Menschen auch in Alltagssituationen Gefühle von Hilflosigkeit und Angst entwickeln. Schnell haben sie das Gefühl, auf dem falschen Fuß erwischt worden zu sein oder sprachlos und handlungsunfähig zu sein. Auf Dauer verunsichert diese Selbsterfahrung und verleitet zu einem Verhalten, Situationen, die problematisch werden könnten, von vornherein zu vermeiden.

Erlernte Hilflosigkeit oder ängstlich vermeidendes Verhalten

Geprägt wurde der Begriff der erlernten Hilflosigkeit von den amerikanischen Verhaltenspsychologen Martin E. P. Seligman und Steven F. Maier 1967. Sie hatten beobachtet, dass manche Menschen nicht mehr erwarten, bestimmte Situation kontrollieren bzw. gestalten zu können. Außerdem hatten sie herausgefunden, dass diese erlernte Passivität und Selbstbeschränkung auf frühere Erfahrungen der Hilf- und Machtlosigkeit zurückzuführen ist. Doch davon später!

Wer kennt sie nicht, diese alltäglichen Situationen, die uns unsere Lebendigkeit rauben: Man findet Schlüssel oder Handy nicht auf Anhieb; obwohl gerade Feierabend ist, will ein Kollege noch etwas; man hat etwas Wichtiges vergessen oder etwas geht schief. Mir ist es einmal an einer Ampel an einer Anhöhe passiert, dass ich sah, wie der Wagen vor mir ins Rollen kam und gleich gegen mein Auto stoßen würde; ich war so gelähmt, dass ich nicht in der Lage war zu hupen.

Das End-of-the-Story-Gefühl

Solche und ähnliche Situationen sind nicht wirklich bedrohlich, aber sie führen zu einer Art psychischem Systemabsturz. Wir fühlen uns wie gelähmt und betäubt, als hätte sich ein alter schwerer Mantel über uns gelegt oder aber wir werden von fürchterlichen Gefühlen überschwemmt, die uns vollends verunsichern können. Oft gelingt es nicht mehr, die Situation in ihren Facetten differenziert wahrzunehmen. Entweder sind wir sprachlos oder handlungsunfähig oder beides. Das Seltsame ist, obwohl wir erwachsene Menschen sind, die so viel wissen und können, sind wir in solchen Momenten wie abgeschnitten von unseren Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten. Der Begriff End-of-the-Story-Gefühl bezeichnet den Zustand sehr gut.

In seinem Buch Verlust des Mitgefühls untersucht der deutsch-amerikanische Sozialpsychologe Arno Grün diesen Zustand. Grün beschreibt, wie wir abgetrennt werden von unserer Intuition und Kreativität. Wir hören unsere innere Stimme nicht mehr. Wir können nicht mehr fühlen, was wir wollen und was nicht. Aus unserer Tiefe steigen keine Handlungsimpulse mehr auf. Wo Mut und spielerische Neugier, manchmal auch Wut gefragt wären, fühlen wir uns hilflos.

Wir erleben diese Zustände als persönliches Versagen, doch sind sie etwas Kollektives. In einem Video beschreibt der Hirnforscher Gerald Hüther ein Experiment: einjährigen Kindern wird gezeigt, wie sich ein rotes Püppchen eine Schräge hinaufquält. Dann erscheint ein blaues Püppchen und hilft dem roten nach oben. Kurz vor Erreichen des Ziels verschwindet das Blaue wieder und von oben kommt ein Grünes und drängt das rote Püppchen wieder hinunter. Nach Beendigung der Vorführung wird den Kindern das blaue und das grüne Püppchen angeboten. In der Regel greifen sie nach dem blauen Püppchen.

Wiederholt man das Experiment, wenn die Kinder zwei Jahre alt geworden sind, greifen die meisten nach dem grünen Püppchen. Hier, so Gerald Hüther, ist die Spaltung von Gefühl und Verstand vollzogen. Die Kinder haben gelernt, dass ihnen ihre Gefühle wenig nutzen und als Schwäche gelten. Das Gefühl zu sich selbst und damit das Mitgefühl mit anderen ist verloren gegangen. Gehandelt wird nicht mehr aus menschlicher Intuition und Empathie, sondern man passt sich an, Noch einmal der Psychologe Arno Grün: Wir werden geboren als Original und sterben als Kopie.

Der Weg zurück zur Lebendigkeit

In dem Zitat von Arno Grün klingt es an: Was uns einzigartig macht, was unserem Leben Würze verleiht, das sind unsere Gefühle. Gefühle liefern uns ein differenziertes Bild von der Welt da draußen. Sie verbinden uns mit den tieferen Schichten unserer Persönlichkeit, Gefühle schaffen echten Kontakt zu anderen. Ein erfülltes Leben ist ohne Gefühle nicht denkbar.

Wie eine Schnecke ihre Fühler, so ziehen wir, wenn wir schlimme Erfahrungen gemacht haben, unser Empfindungsvermögen zurück. Es ist, als würden wir sagen: „Jetzt will ich auch nicht mehr!“ Dabei erkaufen wir die vermeintliche Sicherheit vor erneuten Verletzungen mit emotionaler Taubheit.

Allerdings können Gefühle in ihrer Sprunghaftigkeit und Totalität auch zur Qual werden. So wie es quasi automatische Gedanken gibt, die uns immer wieder mit ihren negativen Inhalten überfallen, gibt es auch trügerische Gefühle, die sich verselbstständigt haben und wie gewohnt auftreten. Man erkennt sie leicht daran, dass sie zu der Situation, in der wir uns befinden, keine wirkliche Relation haben: wir fürchten uns, wo keine Gefahr droht; wir sorgen uns, obwohl alles ganz gut läuft; wir fühlen uns nicht dazugehörig, obwohl wir zu der Party eingeladen worden sind. Auch hier hilft Achtsamkeit, inmitten der unruhigen Gefühle einen Ruhepol zu finden.

Gefühle haben häufig eine Wellennatur. Wenn man sie zulässt, rollen sie heran – mal mächtig, mal fast unmerklich. Dann erreichen sie ihren Höhepunkt und ebben allmählich wieder ab. Manchmal dauert so ein Zyklus nur wenige Sekunden, manchmal erstreckt er sich über Minuten. Allerdings hinterlassen Gefühle in uns starke Eindrücke, so dass wir oft denken, den ganzen Morgen hätten wir uns niedergeschlagen gefühlt. Sind wir ehrlich, müssen wir zugeben, dass wir zwischendurch darüber nachgedacht haben, was es heute Abend zu essen gibt, einen Einkaufszettel gemacht haben usw. Nur in Ausnahmefällen können Gefühle über Tage oder Woche anhalten. Dann brauchen die Betroffenen eine Begleitung.

Anerkennen was ist

Ganz gleich, ob es sich um emotionale Taubheit oder einen Überschwang an Gefühlen handelt, jede Veränderung beginnt mit der Anerkennung des Ist-Zustandes. Wenn du dich abgeschnitten fühlst von deinen Gefühlen oder wenn du dich oft in Situationen wieder findest, in denen du ängstlich fühlst oder wenn du bestimmte Situationen vermeidest, um nicht mit unangenehmen Gefühlen in Kontakt zu kommen, ist es zunächst dran anzuerkennen, is' so! Manchmal muss auch erst eine gewisse Trauer gefühlt werden, bis man sich für eine Veränderung entscheidet und sich auf den Weg macht, seine Gefühle und die eigene Lebendigkeit zurückzuerobern oder Frieden im Strom der Gefühle zu finden.

Achtsamkeitstraining

Ein wunderbarer Weg wieder in Kontakt zu kommen mit den eigenen Empfindungen ist das Achtsamkeitstraining, welches vor allem durch den Amerikaner Jon Kabbat-Zin bekannt geworden ist. Eine sehr einfache und wirkungsvolle Methode, die auch in jeden noch so vollen Tag hinein passt, ist die folgende:

Für ein paar Minuten (vor oder nach der Arbeit, in der Pause, wenn die Kinder aus dem Haus sind oder vor dem Schlafengehen...) zieht man sich an einen halbwegs ruhigen Platz, am besten in der Natur zurück, das kann auf dem Balkon, auf der Terrasse oder auf dem Parkplatz hinter dem Büro sein. Zuerst registriert man aufmerksam, was man sieht. Man nimmt bewusst wahr, da steht ein rotes Auto, dort dieser Baum mit der der rauen Borke, der Himmel ist blau oder bewölkt. Dann wendet man seine Aufmerksamkeit allem zu, was zu hören ist: Vogelstimmen, Verkehrsgeräusche etc. Dann dem, was man mit dem Körper fühlt: Sonne auf der Haut oder kalter Wind, den Druck der Füße auf den Boden... Dann was man riechen kann und manchmal ist die Luft so frisch, dass man sie fast schmecken kann.

Am nächsten Tag geht man etwa zur selben Zeit wieder an den gleichen Ort und öffnet wieder seine Sinne, für alles, was da ist. Noch eins mehr: jetzt kann man Veränderungen beobachten: das rote Auto ist weg, heute ist der Himmel völlig bedeckt usw. So schärft sich allmählich wieder unser Empfindungsreichtum. Wir treten heraus aus der verkopften Welt abstrakter Ideen und kommen wieder in einen sinnlichen Kontakt mit unserem Körper und der wirklichen Welt.

Das Achtsamkeitstraining ist eine Vorübung, um passives und ängstlich vermeidendes Verhalten zu überwinden und um Ruhe im Strom der Gefühle zu finden. Dadurch dass wir uns selbst wieder bewusst wahrnehmen, machen wir eine Selbsterfahrung und Selbsterfahrung ist eine Form von Selbstbewusstsein, welches sich allmählich verwurzelt und in Selbstvertrauen mündet. Selbstvertrauen kann nicht befohlen werden. Es wächst mit der Zeit durch die Verankerung des Bewusstseins im Körper.

Was tun in Momenten der Hilflosigkeit – Konkrete Tipps

Der erste Rat, den man für Momente der Hilflosigkeit geben kann, ist, auf die Atmung und auf Körperwahrnehmung zu achten. Auch wenn man nicht sofort weiß, was zu sagen oder zu tun ist, „groundet“ man sich wieder, in dem man die Füße auf dem Boden fühlt und beobachtet, dass man weiteratmet. So verschafft man sich Zeit und Raum, damit ein Impuls aus dem Inneren aufsteigen kann.

Der nächste Tipp klingt paradox: Es geht schon darum, auch unangenehme Gefühle ggf. der Ohnmacht oder Angst zu untersuchen, ohne sich darin zu verlieren. Ganz wichtig ist es, zu überprüfen, ob das, was ich fürchte, auch eintritt. Vielleicht fühlt es sich gerade so an, dass ich vernichtet werde, aber vielleicht will mir mein Chef nur sagen, dass er mit diesem oder jenem nicht zufrieden wahr. Die Frage, ob mich etwas wirklich existenziell bedroht, hat schon manchen aus einer emotional misslichen Situation gerettet.

Ein anderes Problem ist, dass wir in Situationen, in denen wir neues Verhalten ausprobieren, oft zu sehr mit unseren eigenen Reaktionen beschäftigt sind. Statt zu beobachten, was passiert und wie andere Menschen reagieren, hören wir in unserem Kopf vorwurfsvolle Stimmen, die sagen: Wie kannst du nur! oder Das macht man nicht! oder wir fühlen, wie ein schlechtes Gewissen uns von hinten packt. Diese Stimmen und negativen Gefühle sind erst einmal da und wenn man sich auf sie konzentriert, bleiben wenig Möglichkeiten. Wie wäre es stattdessen, diese inneren Vorgänge an der Außenwelt zu überprüfen? Fällt mein Kollege wirklich tot vom Stuhl, wenn ich sage: Heute schaffe ich das nicht mehr oder sagt er vielleicht sogar: Kann ich verstehen oder hat auch bis morgen Zeit! Hört mein Partner, meine Partnerin wirklich zu atmen auf, wenn ich etwas fordere oder eine Forderung ablehne? Hört die Welt auf, sich zu drehen, wenn ich etwas Neues ausprobiere?

Letzter Tipp: Manchmal umhüllen einen die alten Gefühle wie ein Gespinst, es fühlt sich an, wie unter einem Bann zu stehen. Dann kann es helfen, die Zähne zusammenzubeißen, die Zunge an den Gaumen zu pressen und mit der inneren Stimme zu sagen Ich weigere mich anzuerkennen, dass ich nur aus Angst bestehe! Beim zweiten oder dritten Mal fängt man an, freier zu atmen und wieder klarer zu denken. Plötzlich kann man eine vertrackte Situation differenziert wahrnehmen und weiß immer genauer, was nun zu tun ist.

Natürlich gibt es Situationen, in die wir vielleicht schon angeschlagen hereingegangen sind und wo wir mit etwas Schlimmen konfrontiert sind. Diese Ausnahmesituationen dürfen nicht als Maßstab gelten und nicht zur eigenen Demütigung benutzt werden so unter dem Motto Nie schaffe ich es... oder Immer versage ich... Falls solche Gedanken aufkommen, müssen sie sofort entlarvt werden und gestoppt werden, in dem man laut STOPP sagt oder sogar schreit. Ist man in Gesellschaft, muss es reichen, mit dieser inneren destruktiven Stimme in Gedanken zu sprechen und ihr konsequent zu sagen, dass sie lügt.

Lohnenswert ist es, neues Verhalten und harmlosen Alltagssituationen zu üben. Wenn du immer den Kaffee geholt hast, bitte die anderen einmal, dir einen mitzubringen. Wenn du beim Bäcker merkst, dass du lieber ein Vollkornbrot möchtest statt der Brötchen, frage, ob man das noch ändern kann. Sprich deinen Sitznachbarn in der S-Bahn an, ob er oder sie auch in XY arbeitet. Usw., usw., das Leben ist zu kurz, um lange zu warten. In allen Fällen solltest du dich belohnen und den mitgebrachten Kaffee besonders genießen oder dir bei der Bäckerei-Aktion noch ein Croissant gönnen.

Die schönste Belohnung wird das Glücksgefühl sein, welches in dir wächst, wenn du dich mehr und mehr für dich selbst einsetzt und erlebst, wie eine Tür nach der anderen aufgeht.

Autor: Peter Klapprot, Heilpraktiker (Psychotherapie)
Thema: Erlernte Hilflosigkeit
Webseite: https://www.psychotherapie-ruhr.de

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