Vorab sei gesagt: Eine allgemeingültige Definition für „Stress“ gibt es nicht, sondern nur eine Vielzahl von Definitionsansätzen.
Welche Folgen kann also ein Phänomen haben, für das es noch nicht einmal eine eindeutige Erklärung gibt? Sehr viele!
Stress, kleines Wort, große Wirkung
Schon das Wort „Stress“ klingt unangenehm, wenn man es ausspricht. Die abgehackte Doppel-ss-Endung ist wie ein Nadelstich im Ohr („Stresssssss“). Testen Sie doch einmal an sich selbst, wie Ihr Körper darauf reagiert, wenn Sie „Stress“ denken und sagen. Lassen Sie Bilder zu Situationen aufsteigen, die für Sie stressig waren oder Stress bedeuten.
Was passiert bei Ihnen? Spüren Sie Kopfdruck, bricht Ihnen der Schweiß aus, beginnen Ihre Gedanken unangenehm zu kreisen, oder passiert vielleicht gar nichts? Bei mir zieht sich der Brustraum unangenehm zusammen, das heißt, schon der Gedanke an „Stress“ erzeugt Enge in meinem Körper. Das Wort „Enge“ ist etymologisch mit „Angst“ verwandt. Angst spielt bei Stress häufig eine Rolle bzw. kann gesagt werden: Stress IST Angst. Denn immer geht es bei Stress darum, dass eine Gefahr besteht, bei der noch nicht klar ist, ob sie bewältigt oder zumindest ausgehalten werden kann. Situationen, die man „unter Kontrolle“ hat, deren Bewältigung man sich vollends zutraut, stellen keine „Gefahr“ dar und entsprechend werden sie einen eher nicht stressen, denn hier stimmen SOLL und IST überein.
Mit „Soll“ meine ich in diesem Kontext die bewußten oder unbewußten Vorstellungen, Handlungs- und Reaktionsmuster, Erfahrungswerte, Bewertungsparameter, welche die betroffene Person in sich trägt. „Ist“ bedeutet, WAS ggf. abweichend vom inneren „Soll“, also dem Gekannten, Gewohnten, Erwarteten, im Außen passiert bzw. passieren könnte. Je weiter der Abstand zwischen „Soll“ und „Ist“, also dem Gewohnten/Erwarteten und dem, was tatsächlich geschieht, desto größer der mögliche Stresslevel. Hinzu kommt noch der Faktor Zeit, also die Frage, WIE LANGE dauert die Abweichung (= Stress) zwischen Soll und Ist? Stark reduziert betrachtet bilden zwei Faktoren die Eckpfeiler des Stresserlebens:
Wer (persönliche Erfahrungen, Vorlieben, Abneigungen, Konstitution, Resilienzfähigkeit, familiär-genetische Faktoren) erlebt die Situation?
Wie lange dauert die Situation bzw. wie oft tritt sie auf?
Das „Was“ (also das Stress auslösende Ereignis selbst) ist hier fast zu vernachlässigen (abgesehen vielleicht von Situationen, die universell als Stress eingestuft werden, wie z.B. Unfälle, Krankheit, Krieg u.ä.), weil bei näherer Betrachtung von Situationen, die Person A für stressig hält, wird man häufig feststellen, dass Person B diese als nicht stressig und vielleicht sogar als anregend einstuft und umgekehrt. Warum Person A auf ein bestimmtes Ereignis mit Stress reagiert und Person B eben nicht oder deutlich geringer als Person A, ist sehr stark von individuellen Faktoren abhängig wie (siehe oben) zum Beispiel die persönliche Konstitution, Veranlagung, persönliche Erfahrungen (hier besonders Traumata und andere negative Erlebnisse) des Gestressten u.s.w..
Stress als Entwicklungshelfer
An dieser Stelle möchte ich betonen, dass Stress nicht pauschal als etwas Negatives zu bewerten ist, denn Stress kann durchaus positive Folgen haben, selbst wenn der Gestresste das sicherlich zumeist erst hinterher begreifen wird, also wenn die stressauslösende Situation entweder vorbei ist oder keinen Stress mehr bei der betroffenen Person auslöst. Wie mag das kommen, dass dieselbe Person plötzlich nicht mehr gestresst ist von etwas, das eben oder gestern oder beim letzten Mal, als dasselbe passierte, noch den Blutdruck nach oben trieb? In diesen positiven Fällen haben die Betroffenen die Erfahrung gemacht, dass sie diese Herausforderung, welche zunächst als „stressig“ empfunden wurde, bewältigen oder die Situation sogar aktiv gestalten können und entsprechend nimmt der Grad der Erregung ab (= Soll und Ist nähern sich an). Ein Entwicklungsschritt (Lernerfahrung) wurde gemacht und so etwas wie Gewöhnung („Das kenne ich, das schaffe ich“ oder „Das habe ich geschafft, das kann mich nicht mehr stressen“) tritt ein. Positive Folge von Stress kann also sein: Weiterentwicklung, Erweiterung des Erfahrungsschatzes (Horizonterweiterung), Bewusstseinserweiterung, Zufriedenheit, was als weitere positive Folge auch gesteigerte Vitalität, verbesserte Gesundheit, mehr Lebensfreude haben kann. Soviel zu positiven Effekten (= Folgen) von Stress.
Stress bezeichnet in der Werkstoffkunde die Veränderung eines Materials durch äußere Krafteinwirkung: Es folgen Anspannung, Verzerrung und Verbiegung. (Quelle: Wikipedia)
Leider kann Stress aber auch sehr ungünstige Folgen haben. Entzieht sich die als stressbelastet bewertete Situation dauerhaft der Kontrolle des Gestressten („Ich bin der Sache ausgeliefert“ „Ich bin hilflos“ „Das ist einfach zuviel für mich“ etc.), kann dies eine ganze Reihe von teils gravierenden Folgen auf allen Ebenen haben:
- Psychisch: Stress kann psychische Störungen („der Stress nagt an mir“) wie z.B. Depressionen, Burn-out, Angst/Panikstörungen, Zwangsstörungen etc. begünstigen. Besonders extremes Stress-Erleben (z.B. Unfälle, Kriegserlebnisse und andere lebensbedrohliche Situationen) kann zu Traumata bis hin zur PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) führen.
- Organisch: Starker Stress kann ein auslösender Faktor sein z.B. bei Magen-Darm-Erkrankungen (z.B. Gastritis, Magengeschwür u.s.w.), Kopfschmerzen (bis zu Migräne), Rückenleiden, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Herpes, Hörsturz*, Tinnitus*, Schlafstörungen, Unruhezuständen u.s.w. (* z.B. bei Hörsturz und Tinnitus lassen sich oft keine organischen Ursachen feststellen)
- Sozial: Weitere Folgen von Stress können sein berufliche (z.B. Fehler durch Unkonzentriertheit, nachlassende Motivation, mit „Bauchschmerzen“ zur Arbeit gehen) und private Probleme (Streit mit dem Partner, Reizklima, Rückzug aus dem Freundeskreis („Ich bin im Stress, laßt mich in Ruhe“)), im schlimmsten Fall soziale Isolation und/oder beruflichem Abstieg (den Job durch Überlastung/Krankheit verlieren) u.s.w..
Stress kennt nur der Leistungsschwache (Zitat aus dem Volksmund)
Ich hoffe, die vorstehende Aufzählung (Psychisch, Organisch, Sozial) möglicher negativer Stress-Auswirkungen stresst Sie nicht zu sehr, denn die gute Nachricht ist, dass, wie weiter oben schon gesagt, häufig die inneren, persönlichen Bewertungsparameter (das innere „Soll“) eine erhebliche Rolle bei der Unterscheidung in „stressig“ oder „nicht stressig“ spielen und an diesen Parametern kann z.B. durch Therapie oder Coaching und vielen anderen Maßnahmen (z.B. Meditation, Massagen, Yoga, Sport, Ernährungsumstellung) „geschraubt“ werden.
Manchmal ist schlichtweg auch ein Schritt RAUS aus der stressenden Situation vonnöten (z.B. Auszeit, Urlaub, Arbeitsplatzwechsel, Trennung u.s.w.), was selbstverständlich nicht immer möglich ist, manchmal aber auch nur NOCH nicht für möglich gehalten wird, weil der Betroffene unter Umständen SEHR STARK mit Glaubenssätzen identifiziert ist (Beispiele: „Ich muss das durchhalten“, „Indianer kennen keinen Schmerz“, „Stress kennt nur der Leistungsschwache“, „Das passiert mir doch nicht“, „Man muss sich durchbeissen“), die die Situation unnötig lange aufrechterhalten und so das Leiden verlängern.
Vergleichen als guter Treibstoff für Stress
Im Buch „Hectors Reise“ (François Lelord) sucht die Hauptfigur auf einer Reise rund um die Welt nach den Ursachen des Glücks und kommt zu insgesamt 23 Erkenntnissen. Nr. 1 der 23 Erkenntnisse lautet: Vergleiche anzustellen ist ein gutes Mittel, sich sein Glück zu vermiesen. Dieses Zitat kann auch sehr gut auf das Thema Stress angewandt werden: Vergleiche anzustellen ist ein gutes Mittel, sich selbst Stress zu machen. Denn wer sich und seine Leistungen zuviel vergleicht oder von wichtigen Bezugspersonen permanent verglichen wird (z.B. Eltern, die ihre Kinder fragen, welche Note denn XY in der Klassenarbeit hatte), orientiert sich entsprechend stark am Außen anstatt an sich selbst und DAS erzeugt Stress pur (Glaubenssätze: „Ich muss so gut sein wie…“ oder „Was der kann, muss ich/musst Du auch schaffen“).
Die Folgen, die diese Art von Stress (ständiges Anspruchsdenken) hat, kann man sich wohl gut ausmalen: Insuffizienzgefühle („nie gut genug“), Unzufriedenheit, nicht zu stillender Hunger nach Anerkennung u.s.w.. Auch hier empfiehlt sich ggf. ein Coaching oder Psychotherapie oder wie oben schon geschildert Schritte in Eigenregie, um quälende (= stressende) Ansprüche zu identifizieren, zu modifizieren oder auch durch gesündere Inhalte (z.B. „ausreichend gut statt perfekt“) zu überschreiben.
Was, wenn der Gestresste seinen Stress hergeben müsste?
Abschließend noch ein Gedanke zu Menschen, die häufig und „gerne“ klagen, sie wären unheimlich gestresst, aber jeden Versuch (z.B. von Ihnen als Freund, der sie unterstützen will) „erfolgreich“ abwehren, ihnen beim Stressabbau zu helfen. An dieser Stelle sollte man sich (statt weiterhin erfolglos nach Lösungen zu suchen) fragen, WELCHE Folgen es denn hätte, wenn der Stress, den der Andere beklagt, plötzlich WEG wäre? Vielleicht fällt Ihnen ja jemand (oder Sie selbst?) ein, auf den das zutrifft? Versuchen Sie sich also auszumalen, was wäre, wenn ein Wunder geschähe und das, was Sie selbst oder die Person, an die Sie gerade denken, als stressig bezeichnen, plötzlich aus der Welt wäre?
Fragt sich, ob nicht auch eine gewisse (unbewusste) Furcht davor besteht, KEIN Problem (zumindest jenes, über das ständig geklagt wird) mehr zu haben. Denn was nicht zu unterschätzen ist, ist, dass unser Problem (der Stressor) oft auch etwas uns VERTRAUTES ist, selbst wenn es schwierig und quälend ist. Die Ungewissheit und Angst davor, was NACH Wegfall dieses „stabilisierenden“ Faktors kommen könnte, kann sozusagen STRESSERHALTEND wirken, das heißt „Ich behalte lieber diesen Stress, denn das Nicht-Wissen, was danach kommen wird, ist Stand jetzt noch größerer Stress für mich“.
Es sollte also nicht immer zwingend sofort über die Beseitigung der Stressquelle krampfhaft nachgesonnen, sondern zunächst geschaut werden, wie der Gestresste durch Lokalisierung und Mobilisierung bisher unbekannter Potenziale und Ressourcen in die Lage versetzt werden kann, derart gestärkt überhaupt von dem Problem (Stress-Ursache) loslassen zu können und den Schritt „da raus“ nicht als noch größeren Stress zu empfinden. Welche Folgen dieser "Stress-Tausch" ansonsten evtl. hätte, kann weiter oben nachgelesen werden.
Autor: Marcus Freund
Thema: Die Folgen von Stress
Webseite: https://marcusfreund.de