Die Traditionelle Tibetische Medizin (TTM), genannt Sowa Rigpa, das „Wissen vom Heilen“, deren Wurzeln ca. 8.000 Jahre zurückreichen, zählt neben der trad. Chines. Medizin und dem indischen Ayurveda zu den drei großen naturheilkundlich wirkenden Traditionen Asiens.
In ihr vereint sind Religion, Ritual und Heilkunst und sie wird in Tibet, Indien, Nepal, Bhutan, Ladakh und der Mongolei, sowie Teilen von Russland praktiziert. Sie besteht aus Elementen des Ayurveda, der chinesischen Medizin, persischen Unani-Medizin und uraltem Wissen der mongolischschamanischen Bönmedizin und ist durchdrungen vom buddhistischen Weltbild.
In kaum einem anderen großen Heilsystem spielt die Religion heute noch eine so wichtige Rolle wie in der TTM. Nach buddhistischer Auffassung geht das gesamte medizinische Heilwissen zurück auf Buddha selbst. In seiner Erscheinungsform als Medizinbuddha hat er die Medizinlehre verkündet und wird als höchster Heiler verehrt, der in einem Zustand meditativer Ausgeglichenheit alle 404 in der TTM bekannten Haupterkrankungen überwinden kann.
Die Prinzipien der tibetischen Medizin
Die TTM basiert auf der Lehre von den drei Körpersäften: Lung (Wind) – steht mit dem Geistesgift: Anhaftung und Begierde in Verbindung, Tripa (Galle) – Hass, Wut und Aggression und Beken (Schleim) – Unwissenheit und Ignoranz. Es handelt sich dabei um symbolisch zu verstehende Prinzipien, die nicht nur den Körper betreffen, sondern auch physikalische, feinstoffliche, psychologische sowie spirituelle und religiöse Dimensionen annehmen.
In einem gesunden Körper befinden sie sich in einem Zustand der Harmonie. Aufgrund äußerer oder innerer Einflüsse sind diese aber sehr oft im Ungleichgewicht, was wiederum zu Gesundheitsstörungen führt. Diese äußern sich dann zum Beispiel in Form von Unruhe, Verspannungen oder gar Krankheiten. Der betroffene Mensch leidet an Schlafstörungen, körperlichen und geistigen Unruhezuständen, bis hin zu depressiven Verstimmungen, Ängsten oder Panikattacken.
Gebildet werden die drei Prinzipien aus den fünf Elementen (Raum, Erde, Wind/Luft, Feuer und Wasser), aus denen nicht nur die äußere Dimension - das Universum, in dem wir leben - sondern auch die innere Dimension unseres Körpers besteht.
Das Ziel der TTM und ihrer Methoden ist die Harmonisierung und Balance der fünf Elemente und der verschiedenen Körperprinzipien, damit Körper und Geist gleichermaßen gesund sind und sich in einem ausgeglichenen Ruhezustand befinden.
Behandlungsmethoden der TTM
Die tibetische Krankheitslehre besagt, dass Krankheiten aufgrund eines Ungleichgewichts der Körperenergien entstehen, deren Ursache wiederum die drei Geistesgifte sind. Eine falsche Lebenseinstellung, also „falsches Denken“, wird als Grundursache jeglicher Gesundheitsstörung angesehen und westliche Forschungen bestätigen: Die Lebenseinstellung und das individuelle (positive) Denkmuster beeinflussen entscheidend die Selbstheilungskräfte eines Menschen.
„Falsches Denken“ durch die Ausübung der buddhistischen Religion zu überwinden, das sog. Dharma, ist im Buddhismus Heilmittel Nummer Eins gegen die Hauptursache aller Krankheiten, das „falsche Denken“, die Unwissenheit.
Alle Behandlungsmethoden der TTM werden in drei Kategorien unterteilt:
Innere Heilmethoden – dazu gehören: Pflanzenheilmittel (sog. Juwelenpillen), Inhalationen sowie eine Umstellung der Ernährung passend zu der individuell vorherrschenden Körperenergie. Wichtige Grundlage und Voraussetzung für einen gesunden Körper und Geist ist ein optimal funktionierendes Verdauungsfeuer (medrö), ohne das Störungen in der Verdauung auftreten können. Diese dann wiederum dazu führt, dass das innere Feuer (tummo) nicht entfacht wird, ohne das ein Zustand der Glückseligkeit nicht erreicht werden kann.
Äußere Heilmethoden – dazu zählen die besonderen Formen der tibetischen Massagen (tibetisch-energetische Ausgleichsmassage oder trad. Kum Nye), Mineralbäder, Räucherungen, Moxibustion mit oder ohne goldene Nadel, Akupressur oder Akupunktur, Schröpfen oder Aderlass.
Religiöse Heilmethoden – hier wären beispielhaft zu nennen: Meditation, das tibetische Heilyoga Lu Jong, Atemübungen, Gebete und Mantras oder auch Heilen mittels Handhaltungen (Mudras).
Die hier genannten inneren Heilmethoden dürfen nur von einem erfahrenen und über viele Jahrzehnte ausgebildeten tibetischen Arzt angewandt oder verschrieben werden. Auch einige Formen der äußeren Medizin, wie z. B. Moxibustion mit der goldenen Nadel, Akupunktur oder Aderlass dürfen nur von einem in der TTM erfahrenen Mediziner am Patienten angewendet werden.
Die Methoden der mentalen Übungen, Meditationen und Körperbewegungen aus dem tibetischen Buddhismus wirken allgemein unterstützend für die Herstellung oder Erhaltung eines stabilen Gleichgewichtes des Menschen. Einige dieser ursprünglich entwickelten, über mehrere tausend Jahre alten, Methoden sind jedoch für westliche Menschen zum Teil kaum durchzuführen oder nachvollziehbar. Daher haben einige tibetische Ärzte und Lamas die Techniken verändert und den Bedürfnissen der westlichen Kultur angepasst, sodass sie von nahezu jedem Menschen ausgeübt werden können.
Das tibetische Heilyoga Lu Jong ist in Deutschland noch relativ unbekannt. Der tibetische Arzt und buddhistische Meister Tulku Lobsang Rinpoche beobachtete bei seinen Lehren über Buddhismus, Meditation oder Medizin, dass die Menschen im Westen den Bezug zur Natur verloren haben, sich zu wenig bewegen und dadurch oftmals Probleme mit emotionalem Ungleichgewicht oder Herzprobleme haben. Es mangelt an einer Sensibilität für den eigenen Körper und schädliche Einflüsse für den Geist werden kaum noch wahrgenommen. Die Übungen des Lu Jong – auch „Meditation in Bewegung“ genannt, die zum geheimen Wissen Tibets gehören, können diesen Problemen begegnen. Sie wirken gleichermaßen auf alle Bereiche unseres Wohlgefühls, führen zu physischer Gesundheit, erhöhen die Energie und lassen uns glücklicher fühlen. Durch die Übungen wird ein erhöhtes Körperbewusstsein entwickelt, die inneren Kanäle gereinigt und der Geist trainiert, wodurch sich ein tiefes inneres Gleichgewicht entwickeln kann. Bestimmte ausgewählte Übungen aus dieser uralten Tradition werden den westlichen Menschen seit ca. 20 Jahren zugänglich gemacht, da sie unmittelbar mit der tibetischen Medizin in Verbindung stehen.
Bestimmte Atemübungen können ebenfalls eine positive Wirkung auf unseren Geist haben. Direkt nach dem Aufwachen morgens sieben Mal ganz tief nur durch das linke Nasenloch einzuatmen, hebt den linken Kanal hervor, der mit Frieden und positiven Gefühlen in Verbindung steht. Eine besondere Methode der Atmung, um den Atem im linken und rechten Kanal auszugleichen, ist die sog. Neunfache Reinigungsatmung. Diese wird oft gemacht, um sich z. B. auf Lu Jong vorzubereiten.
Mantras spielen eine besondere Rolle im tibetischen Buddhismus, denn einen Ton zu erzeugen bedeutet, eine innere Vibration zu generieren. Das nützlichste und zugleich bekannteste Mantra, die Essenz aller Mantras, ist OM AH HUNG. Es repräsentiert den erleuchteten Körper, die erleuchtete Rede und den erleuchteten Geist. In einer Gruppe gemeinsam Mantren zu rezitieren, kann ein sehr kraftvolles Erlebnis sein.
Nach den Körperübungen des Lu Jong ist der Geist ruhig und klar und dies ist dann ein sehr guter Zeitpunkt, um zu meditieren. Unser Geist ist gewissermaßen vorbereitet und man kann sich besser konzentrieren. Eine Möglichkeit der Meditation ist das Einsgerichtet-Sein, bei der der Geist auf einen einzigen Punkt gelenkt wird, indem man z.B. ein Objekt (Kerze, Blume) einige Zentimeter vor sich auf den Boden legt und den Geist dann auf dieses Objekt fokussiert. Auch möglich ist eine sog. Entspannungsmeditation, bei der der Geist einfach fließen darf und Gedanken kommen und gehen. Sie werden weder beeinflusst oder festgehalten, sondern alles darf so sein, wie es ist.
Mudras, wörtlich übersetzt so viel wie „Siegel“ oder „Mysterium“, stellen eine bestimmte Handhaltung dar, deren Ausübung uns z. B. während einer Meditation, innerlich harmonisieren soll. Ihre Wirkung beruht dabei zum einen auf der traditionellen Anwendung bei bestimmten Beschwerden, aber vor allem auch auf der Veränderung des Energieflusses in den Händen durch das Beugen, Strecken, Verbinden einzelner Finger. Die fünf Buddhas, die die fünf Elemente symbolisieren, sind über ihre charakteristischen Mudras/Handhaltungen zu erkennen.
Tibetische Niederwerfungen – Tschak Tsal Wa - sind eine Methode, um Körper, Rede und Geist zu reinigen und den physischen Körper zu stärken. Das Herz wird gestärkt, Chakren geöffnet und Blockaden gelöst. Sie helfen uns dabei, unsere wahre Natur, den reinen Aspekt unseres Geistes, zu erkennen, da sie unser Ego vermindern und uns dadurch ermöglichen, unsere angeborene Weisheit zu erkennen. Traditionell werden in Tibet 108 Niederwerfungen in einem Durchgang gemacht, im Idealfall mindestens einmal pro Tag. Dies dauert, abhängig von der eigenen Geschwindigkeit, ungefähr 15-20 Minuten.
Eine weitere Übung für Körper und Geist stellt beispielsweise die 5 Elemente Massage des Kum Nye dar, die den sog. äußeren Heilmethoden zugeordnet wird. Hierbei werden die grobstofflichen Chakren geöffnet und Blockaden gelöst. Die einzelnen Elemente werden angeregt, damit diese wieder frei im Körper fließen können.
Die hier näher erläuterten Methoden stellen eine Auswahl an Möglichkeiten dar, mit denen wir es schaffen können, Körper und Geist gleichermaßen in einen Zustand innerer Harmonie und Ausgeglichenheit zu bringen. Jedoch sind diese nur dann hilfreich, wenn wir erreichen, diese in unseren Alltag zu integrieren und regelmäßig zu praktizieren. Einige davon sollten jedoch immer unter Anleitung speziell dafür ausgebildeter Lehrer/-innen praktiziert werden, um Traditionen und uraltes Wissen zu bewahren und den größtmöglichen Nutzen für den Menschen zu erzielen. Auch werden erfahrene Lehrer/-innen noch einige andere Methoden kennen und vermitteln, die uns zu mehr Ruhe und Gelassenheit im Alltag führen können.
Autor: Karin Savignano
Thema: Methoden der Traditionellen Tibetischen Medizin (TTM)
Webseite: https://soundsandsilence.de
Autorenprofil Karin Savignano:
Lehrerin für tibetisches Heilyoga Lu Jong und tibetische 5 Elemente Praxis 2-jährige Grundausbildung in tibetischer Medizin und traditioneller tibetischer Massage Kum Nye.