Herr und Frau Weiden sind seit über 20 Jahren verheiratet und haben 2 erwachsene Kinder. Herr Weiden findet per Zufall heraus, dass seine Frau ein Verhältnis mit einem Arbeitskollegen hat.
Als er sie zur Rede stellt verspricht sie ihm, die Beziehung zu beenden. Nach einigen Wochen entdeckt er jedoch wieder eine innige Nachricht auf ihrem Handy von diesem Mann. Er zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus und seine Ehe ist für ihn beendet.
Obwohl er diese Entscheidung weiterhin für die richtige hält, kann er noch Monate nach der Trennung kaum schlafen und grübelt über die vergangenen Ereignisse. Vor allem die Lügen seiner Frau, mit der er immerhin zwei Kinder hat und sehr schöne Lebensjahre verbringen durfte, haben ihn schwer getroffen.
Herr Weiden könnte eine posttraumatische Verbitterungsstörung diagnostiziert bekommen.
Sie gehört nach IDD-10 zu den Anpassungsstörungen. Die Verbitterung wird als ein Gefühlsmix aus Wut und Enttäuschung beschrieben, die entstehen kann, wenn jemand eine Situation oder Handlung als ungerecht erlebt.
Auch andere sehr schwierige negativen Lebensereignissen (Entzug von Kindern, überraschende Trennungen, Entlassung etc.) können der Auslöser hierfür sein. Diese große „Enttäuschung“ kann chronisch werden und länger als 6 Monate anhalten. Typische Anzeichen des „verbitterten“ Menschen sind: Einnehmen einer Opferrolle, Schlaflosigkeit, Sinken von Lebensfreude, Rachegefühle und Selbstvorwürfe.
Damit führt sie zu starker Beeinträchtigung der sozialen Anpassung und Lebensführung. Betroffene Menschen erleben das in der Vergangenheit stattgefunden Ereignis weiterhin als sehr „ungerecht“ und reagieren mit emotionaler Erregung, Erinnerungen daran werden immer wieder wachgerufen und der Wunsch, nicht zu vergessen, bleibt erhalten. Dadurch kann die Lebensqualität auch für Freunde, Arbeitskollegen bzw. Familienangehörige stark beeinträchtigt werden. Auf Dauer bestimmen Niedergeschlagenheit, Aggressionen und ein verminderter Antrieb oft den Alltag. Angst vor Orten, Personen und Dingen, die mit dem Ereignis verbunden werden, entsteht. So geht Herr Weidel nicht mehr in das Café im Stadtpark, da er hier oft zum Kaffeetrinken am Wochenende mit seiner Frau war. An seinem Arbeitsplatz kann er sich teilweise schlechter konzentrieren, weil ihm Schlaf fehlt und die Kollegen laden ihn nur noch ab und zu zu einem Bier ein, weil er kaum noch lacht. Er isoliert sich zunehmend auch von Freunden, da ihn diese an die Beziehung zu seiner Frau erinnern, wenn sie gemeinsame Feste feierten. Dadurch erhält er wenig Ablenkung und verbringt seine freien Abende vermehrt alleine vor dem Fernseher. Er sieht keinen Ausweg aus dieser Situation, da zentrale Grundannahmen und Werte von ihm verletzt wurden. Dieser Zustand wird auch als „Mangel an Weisheit“ beschrieben, was definiert ist als „Expertise im Umgang mit schwierigen Fragen des Lebens, wie z. B. Fragen der Lebensplanung, Lebensgestaltung und Lebensdeutung“. Diese Fähigkeit hilft, komplexe und nicht eindeutig lösbare Probleme des Lebens zu verarbeiten und zu ertragen. Bei Hr. Weidel scheint sie in dieser Situation offensichtlich nicht hinreichend vorhanden zu sein.
Besonders gefährdet sind Menschen, die ihr Selbstwertgefühl in erster Linie aus ihrem Familienleben bzw. Partnerschaft ziehen. Ein dauerhaftes Gefühl, nicht ausreichend geliebt worden zu sein oder eine lang angestrebtes und im vorliegenden Fall verweigertes gemeinsames Altwerden, können Auslöser einer krankhaften Verbitterung sein.
Oft sind verbitterte Menschen in einem starren Korsett aus Werten, Normen und Moralvorstellungen aufgewachsen. Die Betroffenen sind häufig mit Glaubenssätzen wie „Jeder bekommt, was er verdient“, „Treue bis in den Tod“, oder „Leistung wird belohnt“ aufgewachsen.
Nicht selten sieht ein verbitterter Mensch durch Kränkungen und negative Erfahrungen sein gesamtes bisheriges Lebenswerk in Frage gestellt. Er resigniert und entwickelt dabei oft Wut und Zynismus. Gleichzeitig fühlt er sich hilflos und nicht in der Lage, etwas an seiner Situation zu verändern. Er sucht die Schuld und die Schuldigen einerseits im Außen und ist gleichzeitig in Selbstvorwürfen und Schuldzuweisungen gefangen. Öfters leiden die Betroffenen an Anzeichen, die denen von Depressionen ähneln, sie fühlen sich innerlich leer, verdrängen diese jedoch durch immer aggressiveres Auftreten nach außen. Dort gelten verbitterte Menschen als sozial schwer bis gar nicht verträglich. Sie gehen ihrem Umfeld mit ihrer Dauernörglerei auf die Nerven, wobei sie sich selbstmitleidig und zynisch verhalten, alles ins Negative ziehen und es schaffen andere ebenfalls psychisch „runterzureißen“. Auch körperliche Symptome einer Verbitterung ähneln denen einer Depression. Das Äußere wird vernachlässigt, Sport und Ernährung treten in den Hintergrund und Alkohol oder Medikamente verschaffen vordergründig „Entlastung“. Im Unterschied zu einer Depression herrschen aber die Gefühle von Gekränktheit, Wut und Enttäuschung vor. Viele Betroffene wollen nicht wahrhaben, dass sie ernsthaft seelisch verletzt oder psychisch erkrankt sind und verweigern Hilfe aus dem Umfeld oder auch eines Therapeuten. Gut gemeinte „Ratschläge“ bewirken jedoch auch oft, dass sich die Betroffenen als „minderwertig“ erleben und sich noch weiter zurückziehen.
Eine Überwindung wäre für Hr. Weidel möglich, wenn es gelänge, die innere Kränkung zu verarbeiten, sich auszusöhnen und mit der Vergangenheit abzuschließen. Dadurch würde eine Neu-Orientierung möglich und positive Zukunftsperspektiven könnten sich öffnen. Voraussetzung hierfür wäre, dass er sich mit über Lösungsmöglichkeiten und alternative Sichtweisen auseinandersetzen möchte.
Dies wird im folgende Modell vereinfacht dargestellt.
Modell der Verbitterungsstörung
Stressor
z. B. Trennung
Reaktion
Verbitterung, Wut, Ungerechtigkeit empfinden, Schlaflosigkeit
Resilienz
z. B. Weisheitskompetenz
Um „Weisheitskompetenz“ zu erlangen, haben Forscher z. B. an der Berliner Charité zu diesem Thema geforscht und Grundlagen für eine Therapie gegen Bitterkeit gesammelt. Da es verbitterten Menschen an Ressourcen mangelt, um die vorhandenen Belastungen wie die Trennung Hr. Weidels von seiner Frau und die damit verbundenen Probleme zu bewältigen, sollen neue Perspektiven entwickelt werden, um das Problem Schritt für Schritt vergessen oder zumindest akzeptieren zu können. Eine neue Fokussierung auf andere Dinge im Leben findet statt.
Eine solche Therapie ähnelt einem „Training“, bei dem mit viel Empathie und Würdigung des Problems grundlegende Überzeugungen und Einstellungen der Klienten verändert werden. Hr. Weidel könnte es danach z. B. akzeptieren, dass er seinen Lebensabend nicht mehr mit seiner Ex-Frau verbringen wird und sich anderen Frauen zuwenden, um eine neue Partnerin zu finden. Allerdings fühlt sich Hr. Weidel zunächst weiterhin als Opfer und ist nicht bereit, an sich zu arbeiten. In einer Therapie muss daher zunächst eine Vertrauensgrundlage geschaffen werden, so dass die Betroffenen spüren, dass ihre Gefühle ernst genommen werden und dass hier Unrecht widerfahren ist. Im nächsten Schritt könnten neue Ziele entwickelt werden. Für Hr. Weidel könnte dies bedeuten, dass er sich neue Hobbies sucht oder alte vertieft, im Berufsleben eine Fortbildung macht oder die Beziehung zu seinen Kindern vertieft, die er jahrelang aufgrund seiner Berufstätigkeit nur eingeschränkt sehen konnte. Schritt für Schritt könnte er somit seinen Fokus mehr auf andere Dinge legen und weniger Zeit damit verbringen, um sein Recht zu kämpfen und vergangene Ereignisse negativ zu bewerten („ich wurde betrogen und das bedarf nicht sein“). Somit würde er mehr Kraft und Freude damit erlangen, was zu mehr Wohlbefinden führen und ihn wieder attraktiver für Arbeitskollegen und mögliche Partnerinnen machen würde. Um Haltungen und neue Perspektiven zu verändern sind gut gemeinte direkte Ratschläge oft nicht hilfreich. Die Forschung zeigt, dass hierdurch oft Ablehnung bei den verbitterten Personen erzeugt wird. Empathische Therapeuten (und evtl. auch Freunde) fragen nach prototypischen Lösungen für andere, fiktive Fälle. Hr. Weidel könnte gefragt werden, wie ein Mann mit einem krankheitsbedingten Verlust seiner Arbeitsstelle nach 26 Jahren engagierter Arbeit umgehen solle. Um möglichst viele Alternativen dazu entwerfen zu können, helfen folgende Fragetechniken:
- Welche Verhaltensweisen helfen bei dem geschilderten Problem eher kurzfristig und welche eher langfristig? Was verschlimmert die Situation?
- Versetzen Sie sich bitte in den Vorgesetzten und dann in jüngere Kollegen. Welche Motive, Sachzwänge und Gefühle könnte es geben?
- Stellen Sie sich verschiedene andere Menschen (Pfarrer, Großmutter, Manager, Kulturforscher) vor, die sich mit diesem Problem befassen. Was würden diese tun, welche Handlungen würde wer vornehmen? Welche Empfehlungen würden sie aussprechen?
- Welche „Lösungen“ würden von den angesprochenen Personen als schädlich, unvernünftig oder falsch finden?
- Wie würden diese Menschen mit dem Problem des krankheitsbedingten Verlusts nach 26 Jahren selbst umgehen?
- Wen halten Sie für einen weisen Menschen in Ihrem Umfeld (Vater, Kinoheld, Politiker), der ein großes Vorbild für Lösungen von Problemen aller Art ist. Worin unterscheiden sich dessen Lösungen von Ihren eigenen?
- Kennen Sie jemanden, von dem Sie einigermaßen sicher sind, dass er bei Ihrem Problem eine unvernünftige, schädliche oder falsche Lösung finden würde? Worin unterscheiden sich dessen Lösungen von Ihren eigenen?
Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass ein solches Vorgehen sehr viel Fingerspitzengefühl erfordert. Hr. Weidel muss erst den Eindruck haben, dass seine Wünsche und Bedürfnisse verstanden und gehört werden. Er steht sich zwar mit seinem Kampf gegen das erlittene Unrecht nach so langen Ehejahren selbst im Weg, aber seien Fixierung darauf verstellt ihm (zunächst) andere Lebensoptionen. Durch die geschilderte „Trockenübung“ können Grundsätze der Bewältigung von Lebensproblemen und Enttäuschungen erarbeitet und zunächst unbewusst auf die eigene Lebenssituation übertragen werden. Es geht also nicht darum, eine Lebensberatung zu führen, sondern um eine Einübung von Weisheitsstrategien an Modellproblemen. Dies kann auch als Ressourcenmanagement verstanden werden, um Ressourcen zu entdecken, die hilfreich sind, um Konflikte und schwierige Ereignisse meistern zu können.
Dabei verschieben sich dann auch automatisch die bisherigen Lebensziele, da sich neue Sichtweisen und Wünsche entwickeln, neue Aktivitäten hinzukommen (Hr. Weidel geht nun in ein anderes Café am Wochenende oder betritt das alte unter der Woche ohne den bisherigen Groll) und eine neue Bewertung der Lebenssituation möglich wird. Hr. Weidel könnte dadurch neue Kompetenzen erwerben, auf die er in Zukunft hilfreich zurückgreifen kann, auch in einer möglichen neuen Partnerschaft.
Autor: Katja Baumer
Thema: Verbittert nach Trennung
Webseite: http://baumer-paarberatung.de
Literatur:
- Kai, Baumann und Michael Linden: Weisheitskompetenz und Weisheitstherapie. Lengerich 2008.
- Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. 7. Auflage. Bern 2010.