[Kolumne] Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin durchaus behütet groß geworden, es gab immer zu essen, ich hatte immer Kleidung und Weihnachtsgeschenke.
Meine Eltern haben dafür gesorgt, dass ich in die Schule gehe und nicht auf die schiefe Bahn rutsche, meist gab es eine Gute-Nacht-Geschichte. Ich würde das sicherlich anders sagen, mit einem cholerischen Vater, einer manipulativen Mutter und einer Schwester, die keine anderen Meinungen akzeptierte, musste ich früh stark werden und mich behaupten, um ein selbstbewusster und selbstsicherer Mensch zu werden.
Natürlich hätte ich mir auch gewünscht, dass ich das nicht muss. Trotzdem hat es mich geprägt und entscheidet heute darüber, wie ich auf Situationen reagiere und mit ihnen umgehen. Jeder Erwachsene wird wohl solche Aspekte in seiner Vergangenheit erkennen, die ihn geformt haben.
Selbstverständlich ist die Situation furchtbar, in der unsere Kleinen vielleicht in der Schule geärgert oder kritisiert werden. Doch wie ist das auf lange Sicht gesehen? Lernt ein Mensch vielleicht, mit solchen Situationen umzugehen und daraus stark zu werden? Gibt es Dinge, durch die wir einfach mal durch müssen, um daraus Vorteile zu ziehen?
Ist es sinnvoll, Kinder grundsätzlich vor jeder Herausforderung zu beschützen, den morgendlichen Sitzplatzkampf im Bus durch eine Fahrt im SUV zu entschärfen, Teamsport aufgrund von eventuellen Kratzern zu verbieten oder bei Streitigkeiten unter Kindern sofort Direktor und Eltern hinzuzurufen?
Begegnen werden wir wohl eher Menschen mit Vergangenheit, die wir bewundern und als kämpferisch empfinden. Mögen wir nicht alle Scrat von Ice Age am liebsten?
Gleichzeitig dürfen wir nicht jeden, der uns als 'schlecht' erscheint, direkt verurteilen, bevor wir seine Geschichte kennen.
Seit etwa einem Jahr schreibe ich einem Mann, der in Arizona eine zwanzigjährige Haftstrafe wegen Totschlags absitzt. Und ja, er wird immer mehr zum Freund. Auch er lehrt mich in jedem Brief, Menschen nicht direkt zu verurteilen. Niemand ist nur schlecht.
Von einer überforderten Mutter in Oslo in die USA adoptiert, bei einer Familie gelandet, die auch nicht besser war... weggelaufen und einem Dealer in die Arme gelaufen, der ihn zu nutzen wusste...
Natürlich gehört er bestraft, natürlich gehört er da hin, wo er gerade ist. Aber er ist eben nicht nur ein Totschläger, er ist ein Mensch mit einer Geschichte.
Sicherlich wird nicht jeder meine Freundschaft zu solch einem Mann verstehen, aber ich habe im letzten Jahr mehr über Menschen gelernt, als in meinem ganzen Leben davor.
Unser Leben macht uns zu dem, der wir sind. Ob wir wollen oder nicht. Wir sollten aus unseren Erfahrungen eben nur das ziehen, das uns zu starken und selbstbewussten Menschen macht. Leider nicht immer leicht.
Dazu möchte ich noch die Geschichte über eine Lehrerin erzählen, die irgendwie immer unfreundlich war, die uns immer bei vergessenen Hausaufgaben mit dem Fahrrad durch die halbe Stadt schickte, um sie doch noch abzugeben, die immer nur schlechte Noten verteilte und die Klassenfahrt zwei Wochen vorher absagt. Bis sie eines morgens nicht mehr in die Schule kam, weil ihr Mann sie und sich mit dem Jagdgewehr erschossen hat. Niemand von uns wusste von ihrer Geschichte, niemand wusste, was sie zu Hause wohl durchmachen musste.
Auch das hat mich für mein Leben weitreichend geprägt, immer auch hinter die Fassade zu schauen und nicht nur aufgrund von einzelnen Erlebnissen zu urteilen.
Man kann Menschen eben nur vor den Kopf schauen.
Autor: Anke Wachtendorf - Schülercoach, Lern- und Erziehungsberatung, Verlagsautorin
Thema: Wie wir werden, wie wir sind
Webseite: http://www.schuelercoaching-wachtendorf.de
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