„Die Summe der Stärken und Begabungen ist in allen Menschen gleich!“
Das glauben Sie nicht? Weil weder das lernbehinderte Kind in ihrer Nachbarschaft noch der demente Großonkel jemals so viel wissen wird, wie Sie wissen?
Da haben Sie Recht! Wissen, werden diese Personen sicher niemals (wieder) so viel wie Sie kluger Leser, kluge Leserin! Aber wir sind mehr als unser Wissen! In unserer Wissensgesellschaft fällt uns das Wissen als erstes ein, der IQ zum Beispiel. Über Wörter, Rechenaufgaben und Muster zum Wiedererkennen lässt sich ein abstrakter Faktor feststellen, der Ihnen sagt, dass Sie schlauer sind als alle die, die eine kleinere Zahl als Ergebnis dastehen haben. Schlauer, als sie als Kind waren und vielleicht – als Sie im hohen Alter einmal sein werden. Aber ist das eine Aussage über Ihre Stärken und Schwächen?
Nur sehr bedingt! Es hagelt Kritik am Intelligenzquotienten: Er diskriminiert die Älteren (weil Alter eben gerade in diesen erfragten Disziplinen nicht Abbau sondern oft auch Aufbau, Anhäufung von Wissen, heißt), er diskriminiert Europäer*innen vor Asiat*innen, weil die durch ihre komplexen Schriftzeichen besser sind in Mustererkennung und besonders diskriminiert es die Straßenkinder in den armen Teilen der Welt. Diese brauchen eine große Genialität um zu überleben – ganz ohne Buchstaben, Zahlen und Muster!
Der IQ (vom Anfang des letzten Jahrhunderts, entwickelt um im 1. Weltkrieg Soldaten zu finden, denen man teure Kriegsmaschinen anvertrauen kann) zeigt uns nur ein winziges Stückchen unserer Stärken. Er beschreibt das sog. konvergierende Denken, welches die Lösung von rationalen Problemen, für die es eine korrekte Antwort gibt, umfasst. Er bildet nicht ab, wie gut wir Auto- oder Fahrrad fahren, Kuchen backen oder kochen, wie viele Sprachen wir sprechen oder begonnen haben zu lernen, wie viele Bücher wir gelesen und was wir uns daraus gemerkt haben, wie wir mit unseren Partnern, Freunden und mit unseren Chefs (falls vorhanden) umgehen, wie gut wir Sudokus lösen können oder wieviel Geduld wir mit kleinen Kindern haben.
Ein alternatives Modell zum IQ schuf der damalige Journalist Daniel Goleman mit seinem Konzept zum EQ: dem Emotional-Quotienten („Emotionale Intelligenz“ – ein Bestseller der 1990er Jahre). Hier wird gefragt, wie wir uns sozial bewegen, wohin unsere Zu- und Abneigungen fallen, was wir an Emotionen haben, an Leidenschaften, an Empathie und wie unser sozialer Umgang miteinander ist. Daraus resultieren Führungsqualitäten, der Umgang mit persönlichen Schwierigkeiten, der Umgang mit den anderen Geschlechtern und mit Wut und Aggression … Aber ist das eine Aussage über unsere Stärken und Schwächen? Vielleicht eher als die pure, umstrittene Intelligenzmessung. Aber genügt das?
Sie merken, dass die Kurve, wenn Sie sie zeichnen wollten, sehr komplex würde! Selbst wenn Sie sich die Mühe machen würden, alle Ihre Fähigkeiten, mathematisch, musikalisch, emotional und sozial zu bewerten und die Ergebnisse dann zu addieren, wäre es kein vollkommenes Bild ihrer Stärken – und natürlich erst recht nicht Ihrer Schwächen! Denn diese aufzuzählen fällt uns viel schwerer! Ich will gar nicht wissen, was ich alles nicht kann! Ich bin doch froh, wenn es keiner merkt! Es gibt Schwächen, die wir für unwichtig halten, die uns jede und jeder lächelnd verzeiht. Es ist nicht wichtig, wenn Sie nicht gut singen, zeichnen oder am Reck turnen können (wenn Sie das nicht gerade zum Beruf gemacht haben – aber wer wäre so dumm?). Wenn Sie den ganzen Tag einsam am Rechner sitzen interessiert es keinen, wie wortgewandt Sie mündlich sind und wenn Sie ein Handwerk ausgezeichnet beherrschen ist es vermutlich egal, ob Sie sich noch an die binomischen Formeln oder den Satz des Pythagoras erinnern. Unsere Schwächen kennen wir kaum selbst, wir verdrängen sie, wollen wir nicht gespiegelt bekommen! Nicht umsonst eliminieren wir sie in unseren Lebensläufen und Bewerbungsschreiben. Sie gehen in die fiktive Rechnung der „Summe meiner Stärken und Schwächen“ nicht ein. Betreiben wir da nicht einen gewissen gemeinschaftlichen Selbstbetrug?
Aber von den Schwächen abgesehen: Es ist Ihnen klar geworden, dass Ihre Stärken nicht die Summe aus IQ und EQ sind, auch nicht abzüglich irgendwelcher Schwächen, die Sie nicht hätten, wenn Sie als Kind besser geschult worden wären oder wenn Sie in einer anderen Familie und einem anderen Land gelebt hätten!
Was fehlt noch? Der Amerikaner Paul Gilford, heute als Kreativitätsforscher bekannt, hat das in den 1950er Jahren zu ergründen versucht. Sein Ergebnis war nicht eine Kurve sondern ein bunter ungarischer Zauberwürfel namens SOI (structur of intelligence). Allerdings nicht mit der Zauberwürfel-Kantenlänge von drei Steinen sondern als Quader mit bis zu 180 kombinierbaren Elementen: 5 x 5 x 6 = 150. Er teilt ihn ein in Gedächtnisinhalte, Denkoperationen und Denkergebnisse. Diese orientieren sich wiederum am Sehen, Hören, der Sprache, der Semantik und dem sozialen Verhalten eines Menschen. Sie reagieren mit anderen Inhalten zusammen in Einheiten oder Klassen, knüpfen Beziehungen zwischen den Inhalten, erbauen Denkgebäude, verändern die Wirklichkeit und führen zu ganz neuen Ergebnissen und Schlüssen, welche dann wiederum zu neuen Denkgebäuden und Ergebnissen führen können. Der Verdienst dieses Modells ist es, dass die Intelligenz in ihm keiner Hierarchie mehr unterliegt. Jede Fähigkeit kann sehr gut und nützlich oder wenig ausgeprägt und von anderen Eigenschaften verdeckt sein. Es gibt nicht wertvolle und wertlose Fähigkeiten sondern einander addierende, multiplizierende oder potenzierende Fähigkeiten, die es in sich selbst zu entdecken gilt.
Von diesem Modell der Intelligenz ging Guilfort weiter zu einer Theorie der Kreativität. Denn was ist stärker als Kreativität? Etwas Neues aus bekannten Einheiten schaffen zu können übertrifft jede einzelne Eigenschaft, oder? Kreativität hat einen sehr guten Leumund bei uns: „Kreativ“ ist ein beliebtes Adjektiv für unsere Aktivitäten, auch für die unkreativen: Eine Bastelarbeit nach einem fertigen Bausatz anfertigen mit einem achtjähigen Kind. Wie wertvoll ist es, „Für Elise“ auf dem
Klavier oder Weihnachtslieder auf der Blockflöte spielen zu können? Ist es eine Stärke, einen Linolschnitt anfertigen zu können? Ist ein berühmter Bildhauer kreativer als ein Kind, welches Männchen aus Knetmasse anfertigt? Der gar zu gute Leumund ist jedoch mitunter eine Verhinderung von Kreativität. Denn wenn alles, was wir anfangen kreativ ist, nur weil wir es gerade tun, was ist dann eine schöpferische Leistung, die größer ist als eine Nudelsauce oder das Bild, was unsere Dreijährige gerade gemalt hat?
Darüber hat ein Amerikaner mit unaussprechlich-ungarischem Namen geforscht (Mihaly Csikszentmihalyi). Er meint, dass Kreativität als Ergebnis unserer Stärken nicht nur von unseren persönlichen Stärken oder Schwächen, also unserer Persönlichkeit abhängt, sondern auch vom Produkt, welches unsere Bemühungen erzeugen und vom Prozess der Produktion. Sollten Sie Saxophon spielen oder Pianistin sein, dann wissen Sie natürlich, dass Sie beim Live-Auftritt kein bleibendes Produkt erzeugen, sondern dass die Kunst im Prozess des evtl. gemeinsamen Spielens liegt – ob jemand zuhört oder nicht. Maler und Dichterinnen haben es da leichter, die haben ein Ergebnis in der Hand, bestenfalls (schlechtestenfalls eine Anzahl gedruckter Seiten oder bemalter Blätter in der Papiertonne). Ein Punkt von Kreativität ist also die Persönlichkeit, die sich bemüht, die etwas gelernt hat, vielleicht viele Stunden das Instrument geübt hat oder die Haltung einer chinesischen Rohrfeder. Hinzu kommt, dass nur als kreativ anerkannt wird, was die Gesellschaft überhaupt als solches erkennen kann.
Die größten Stärken finden kein Echo bei Anderen, wenn niemand das entstandene WERK je sieht und erkennt. Das fertige Buch in der Schublade oder im PC, was niemand je lesen wird, ist kein kreatives Produkt. Denn dazu (wie zu allen unseren Stärken) gehört, dass sie jemand entdeckt, niemand kann heimlich stark sein. Sinngemäß sagt M.C.: Kreativität entsteht aus der Beziehung dreier Elemente zueinander, die gemeinsam ein System bilden: einer Kultur, die symbolische Regeln aufstellt, einer Person, die etwas Neues einbringt und einem Feld von Experten, die diese Innovation anerkennen und bestätigen. Alle drei Elemente sind notwendig, damit es zu einer kreativen Idee, Arbeit oder Entdeckung kommen kann. Ein Buch also, was weder im Internet noch bei einem Verlag veröffentlicht wird, kann den Eltern und Freunden einer Person toll erscheinen, zählt aber nicht als kreativ – weil ihm das gesellschaftliche Korrektiv fehlt und die Akzeptanz der „Domäne“, also z.B. eines Verlages oder im Falle eines Bildes eines Museums.
Stärke ist also niemals nur die Fähigkeit etwas zu tun, sondern auch die, das Getane an den Mann oder die Frau zu bringen! Das ist einer der Gründe, warum Werke, die im Rausch und Flow entstanden sind ihren Produzent*innen zwar ein Hochgefühl verschaffen können, aber dennoch selten zur Berühmtheit gelangen. Für die Kreativität benötigt es sog. divergierendes Denken, welches nicht zu anerkannten Antworten führt – also genau das Gegenteil der Fähigkeiten, die unseren IQ in die Höhe schrauben helfen. Dazu gehören die Fähigkeiten, wechselnde Perspektiven einzunehmen, Originalität (ungewöhnliche Ideenverknüpfungen) und Flüssigkeit im Handeln. Diese Dimensionen des Denkens versucht man in Kreativitätstests zu messen. Aber ob ein hoher Wert im Kreativitätstest auf die Stärke einer Person hinweisen kann ist offen. Vermutlich müssten wir erst einmal definieren, was Stärke sein soll, ehe wir sie uns oder anderen zuschreiben oder aberkennen können.
Damit bin ich bei einem weiteren Bereich an Stärken und Schwächen, einem, in dem die Idee der Messbarkeit bisher nicht vorhanden ist: dem der Lebenskunst. Lebenskunst ist ein uraltes Modell, schon in der Antike gab es bedeutende Schriften dazu, dann im Mittelalter (was nicht finster war), dann beim Dresdner Arzt Carl Gustav Carus und seit dreißig Jahren beim Lebenskunstphilosophen Wilhelm Schmidt. Lebenskunst beschreibt, wie wir ein starkes Leben führen können. Sie setzt sich auseinander mit den Lebensformen, dem Lebensstil (oder Lifestyle?), dem Umgang mit äußerer und innerer Wirklichkeit. Diese kann uns entgegentreten in den Fragen nach der Macht, dem Umgang mit den Medien, dem Eigentum, den anderen Menschen, mit schwierigen Lebenssituationen, mit Bildung und Selbstbildung, mit Wissenschaft oder Ökologie. Dies ist nur ein Auszug. Lebenskunst versucht zu antworten auf unsere täglichen unbeantworteten Fragen: Wie kann ich stark sein, wenn mein Alltag ganz von Gewohnheiten abhängig ist? Kann ich stark sein, wenn ich Schmerzen habe? Wenn ich zornig oder melancholisch bin? Wie komme ich mit der Zeit zurecht, die sich meinem Willen nicht beugt, die immer zu knapp ist, außer im Wartezimmer von Ärzten? Lebenskunst lotet das Verhältnis von Stärke und Schwäche in uns Menschen aus und wie wir dieses Verhältnis vielleicht verschieben können – es sei denn, wir kommen zu dem Schluss, dass „die Summe der Stärken und Begabungen vermutlich in allen Menschen gleich ist!“
Autor: Dr. Angelika Weirauch
Thema: Stärken und Schwächen eines Menschen
Webseite: http://www.weirauch.eu