Neulich saß Hanna M., eine schlanke und attraktive Frau, bei mir in der Beratung. Sie erzählte, dass sie völlig am Ende ihrer Kräfte wäre. Sie wüsste einfach nicht mehr, wie sie alle Aufgaben erledigen soll.
Auf meine Nachfrage erzählte sie, dass sie als Verwaltungsangestellte in einer großen Firma arbeite. Hanna ist seit neun Jahren verheiratet und hat zwei Kinder im Alter von sieben und zehn Jahren. Seit zwei Jahren ist die Familie stolzer Besitzer eines Eigenheims. Von außen betrachtet, so sagt Hanna, führe sie ein ideales Leben, doch der Schein trüge. In ihrem Haus und in ihrem Leben wäre alles chaotisch. Sie sagt beispielsweise, dass das Haus unordentlich und schmutzig aussähe und dass sie daher unter ständiger Angst lebe, dass ihre Verwandten oder Bekannten unangemeldet zu Besuch kämen.
Jedoch würde Hanna es einfach nicht mehr schaffen, das Haus in Ordnung zu halten. Auch in der Arbeit versuche sie verzweifelt, alle Aufgaben perfekt zu erledigen. Hanna berichtet von ihren Ängsten, zu versagen und dass ihr Fehler unterlaufen könnten. Sie vermisst die Anerkennung der Kollegen für ihr übermäßiges Engagement. Auch zu Hause sieht niemand, wie sehr sie sich bemüht, Haushalt, Arbeit und Familie „unter einen Hut“ zu bekommen.
Aber Hanna ist auch mit sich selbst unzufrieden. Nachts liegt sie wach und grübelt über ihre Fehler. Sie fühlt sich als Versagerin auf der ganzen Linie. Seit einiger Zeit leidet sie zudem noch unter einer Schlafstörung und einer Essstörung. Sie ist erschöpft, deprimiert und bittet mich um Hilfe.
Zwar kommen häufiger Frauen als Männer mit dieser Art Hilferuf in meine Praxis, jedoch sind auch Männer oft vom Alltag überfordert. Die Betroffenen haben sehr hohe Anforderungen an sich selbst. Der Maßstab, den sie an sich selbst anlegen, ist dabei nahezu unerfüllbar.
Was bedeutet Perfektionismus?
Wir bezeichnen etwas als „perfekt“, das Ideal und damit nicht verbesserbar ist.
Darauf aufbauend beinhaltet die allgemeine Definition des „Perfektionismus“ das Streben nach Vollkommenheit auf der einen Seite und auf der anderen Seite die übertriebene Fehlervermeidung sowie die Angst vor Fehlern.
Gesunder Perfektionismus
Um neue Wege zu gehen und bisher unerreichte Ziele zu verwirklichen, ist es oft notwendig, Ehrgeiz zu entwickeln und über das allgemeine Mittelmaß hinauszugehen. Viele Wissenschaftler, Künstler und Spitzensportler sind Perfektionisten. Perfektionismus spornt Menschen zu Höchstleitungen an.
Wenn das Streben nach Perfektionismus höher ausgeprägt ist als die Angst vor Fehlern, wird dies in der Wissenschaft als „funktionaler beziehungsweise gesunder Perfektionismus oder auch als Gewissenhaftigkeit“ bezeichnet.
Menschen mit gesundem Perfektionismus haben keine Ängste, dass “etwas schief gehen“ könnte. Sie können sich über ihre Erfolge freuen und auch Misserfolge akzeptieren.
Krankhafter Perfektionismus
Sind dagegen sowohl das Streben nach Vollkommenheit als auch die Fehlervermeidung gleich stark ausgeprägt, wird dies als „krankhafter und dysfunktionaler Perfektionismus“ benannt. Anders gesagt, die Betroffenen haben Schwierigkeiten im Umgang mit Misserfolgen. Diese Perfektionisten haben Angst, Fehler zu machen und bewerten diese als persönliches Versagen. Wenn der Idealzustand nicht erreicht werden kann, verallgemeinern die Betroffenen und denken oft „Wenn ich hier versage, dann habe ich im ganzen Leben versagt“.
Bei krankhaftem Perfektionismus wird das Selbstwertgefühl vom Erfolg abhängig. Bei Misserfolgen fühlen sich die Betroffenen als nicht liebenswert und/oder als Versager.
Ursachen für krankhaften Perfektionismus
Eine gewisse Neigung zum Perfektionismus kann angeboren sein. Eine wesentliche Rolle spielen auch die Erziehung und persönliche Rollenvorbilder. Wenn einerseits Eltern hohe Standards setzen und andererseits wenig Wärme und Akzeptanz schenken, kann der Hang zum krankhaften Perfektionismus verstärkt werden.
Ein Kind lernt auf diese Weise, dass nur die Leistung zählt und zu Zuwendung und Wertschätzung führt. Demzufolge unterlag das Kind dem Zwang, Fehler zu vermeiden und immer besser sein zu müssen. Das Kind lernte nicht, dass auch Fehler passieren können und mit diesen Misserfolgen umzugehen. Über diese Leistungsorientierung ergab sich im weiteren Leben beispielsweise der Glaubenssatz „Ich bin nur etwas wert, wenn ich mehr als alle anderen Menschen leiste“.
Symptome bei krankhaftem Perfektionismus
Es besteht bei vielen Menschen die Gefahr, an krankhaftem Perfektionismus zu erkranken. Die Symptome sind vielfältig und betreffen den Körper, die Psyche, die Gefühle und auch unser Verhalten. Krankhafter Perfektionismus kann bis hin zu Suizidgedanken führen.
Zu den Symptomen zählen beispielsweise Anspannung, innere Unruhe, Verspannungen, Alkoholismus, Zwangsstörungen, sexuelle Funktionsstörungen, Schlafstörung und Essstörung.
Die Betroffenen haben ein stetiges Gefühl von Überforderung, Erschöpfung oder von Genervt- und Gestresst sein. Aber auch Ängste – Angst die Ziele nicht zu erreichen, Angst vor Fehlern, Angst zu versagen, Angst abgelehnt zu werden und sogar die Angst erfolgreich zu sein - können erste Symptome eines krankhaften Perfektionismus sein. Ängste, verbunden mit Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit, können zusätzlich in eine Depression führen.
Dysfunktionale Perfektionisten sind mit sich selbst unzufrieden und frustriert, wenn sie ihre „unerreichbaren“ Ziele nicht erreichen. Das führt dazu, dass sie schwer eine Arbeit beenden können, da diese ihrer Meinung nach nie ausreichend perfekt ist. Sie haben auch Angst, etwas falsch zu machen, wenn sie neue Aufgaben übernehmen. Krankhafte Perfektionisten fühlen sich minderwertig, schämen und verurteilen sich.
Hilfe bei krankhaftem Perfektionismus
Neben der Suche nach den Ursachen für den krankhaften Perfektionismus stehen die Konsequenzen des Denkens sowie Therapiemöglichkeiten im Fokus.
Menschen, die unter krankhaftem Perfektionismus leiden, haben oft ein zu geringes Selbstwertgefühl. Demzufolge wird eines der Ziele in der Beratung sein, bei den Betroffenen das Selbstbewusstsein zu stärken. Weiterhin werden die eigenen Maßstäbe hinterfragt und neu angelegt. Die Personen werden lernen, mit Misserfolgen umzugehen und diese anders einzuordnen. Die Akzeptanz der eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten hilft, entspannt zu bleiben, wenn „mal etwas schief geht“. Wenn die Betroffenen sich über ihre Erfolge in der Beratung und im Alltag freuen können, dann ist ein weiteres Ziel erreicht.
Wichtig ist bei Perfektionisten die Entspannung. Dazu gehört die körperliche Entspannung durch aktive Bewegung zum Stressabbau. Empfehlenswert sind Spaziergänge, sportliche Aktivitäten genauso wie Tanzen, Singen und Lachen. Aber auch die seelisch-geistige Entspannung, beispielsweise mit Hilfe von Meditation oder hypnotischen Trancereisen, hilft, wieder neue Kraft zu schöpfen und das Leiden unter dem eigenen Perfektionismus zu reduzieren.
Wie ging es mit Hanna weiter?
Hanna hinterfragte im Laufe der Beratung ihre eigenen Denkmuster. Sie erkannte, dass sie geachtet und geliebt wird, auch wenn sie mal einen Fehler macht. Hanna spart viel Zeit und Kraft, seitdem sie die Aufgaben weniger perfekt erledigt. Und sie lernt Aufgaben abzugeben. Letztens erzählte sie mir, dass ihr Mann gemeinsam mit den Kindern das Abendessen vorbereitet hat. Sie lächelt und flüstert mir zu, dass der Tisch nicht ganz so liebevoll gedeckt gewesen sei, wie sie das selbst gemacht hätte. Jedoch weiß Hanna, dass sie dadurch Zeit gewann, um vor dem Essen noch ein Stück spazieren zu gehen.
Wir besprachen Fragen wie „Warum mögen mich meine Mitmenschen?“ genauso wie „Wer außer mir erwartet wirklich, dass ich perfekt bin?“. Eine große Herausforderung war für Hanna, NEIN sagen zu lernen.
Hanna fand instinktiv Menschen, die Fehler machen, schon immer sympathischer als Perfektionisten. Sie ist sich inzwischen bewusst, dass es unmöglich ist, keine Fehler zu machen. Die kleinen Fehler und Schwächen machen die Menschen erst liebenswert und einmalig.
Neulich erzählte sie mir, dass sie das Mittagessen völlig versalzen hatte. Sie lachte, als sie an die Gesichtsausdrücke ihrer Familie dachte und meinte „So schlimm war das nicht, umso mehr hat sich meine Familie über die Nachspeise gefreut.“
Weiterführende Informationen
Dass das Streben nach Perfektionismus in eine Erkrankung führen kann, ist heute noch weitgehend unbekannt. Dr. Christine Altstötter-Gleich und Fay C.M. Geisler von der Universität Koblenz-Landau forschen auf diesem Gebiet. Ihre Forschungsergebnisse passen gut mit meinen Erfahrungen aus dem Praxisalltag überein.
Christine Altstötter-Gleich, Fay C.M. Geisler: Perfektionismus (eBook)
„Mit hohen Ansprüchen selbstbestimmt leben“
https://www.psychiatrie-verlag.de/de/buecher/detail/book-detail/perfektionismus-ebook.html
Autor: Kathrin Nake
Thema: Krankhafter Perfektionismus
Webseite: https://lebensberatung-jetzt.com
Autorenprofil Kathrin Nake:
Adresse der Praxis: 01069 Dresden, Uhlandstraße 39
Kontakt per Telefon: Festnetz: 0351 8749 1870, Handy: 0176 5511 7213
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Wenn Sie Interesse und weitere Fragen zum Thema „Krankhafter Perfektionismus“ haben, freue ich mich auf Ihre E-Mail
Die Inhalte des Beitrages geben die Meinung und Auffassung der Autorin (Kathrin Nake – Heilpraktikerin für Psychotherapie und psychologische Beraterin) wieder und sind urheberrechtlich geschützt.