Unsere symbiotischen Verstrickungen und wie wir uns daraus befreien können

Der Begriff der Symbiose stammt aus der Biologie. Er meint zum Beipiel das Zusammenleben von Pilzen und Bäumen.

symbiose-baum-pilz

Die Pilze versorgen den Baum mit Wasser und mineralischen Nährstoffen, während sie von den Bäumen Zucker und Stärke erhalten. Anders als bei Parasiten gehört zu einer Symbiose das gegenseitige Nehmen und Geben.

In der Psychologie ist der Begriff der Symbiose eher negativ konnotiert. Der deutsch-amerikanische Psychologe Erich Fromm beschrieb eine symbiotische Beziehung als „Vereinigung eines Selbst mit einem anderen Selbst“. Besonders krass bringt diese symbiotische Verschmelzung der Partnerlook zum Ausdruck: Es gibt keine zwei Induviduen mehr, sondern nur noch ein Wir. Wenn auch nicht so offensichlich, ist es in unserer Kultur normal, dass sich die Partner in einer Beziehung aneinader lehnen wie zwei Karten in einem Kartenhaus. Oft nimmt ein Partner einen aktiven, der andere einen passiven Part ein; diese Rollen können je nach Lebensbereich wechseln. Während früher der Mann im Berufsleben und die Frau zuhause die Hosen anhatte, sind die symbiotischen Verstrickungen heute schwerer zu erkennen. Ich will ein Beispiel aus meiner Praxis geben:

Ein Beispiel

Ein etwa 60-jähriger Mann hatte am Vorabend in der Garage gebastelt, als plötzlich seine Frau auftauchte, ihn anfuhr: „Das reicht wohl!“ und wieder verschwand. Dieser rabiate Auftritt der Frau hatte in dem Mann allerlei ungute Gefühle und Gedanken ausgelöst. Seine gelöste Feierabendlaune war dahin und er war von dem nagenden Gedanken besessen, dass seine Frau ihn nun verlassen würde.

Da die beiden seit Jahrzehnten eine stabile Beziehung führten, wurde schnell klar, dass dieser Gedanke nicht adäquat zur aktuellen Situation ist, sondern auf ein altes Gefühl des Verlassen-Werdens beruht. In unserem Gespräch wurde auch deutlich, dass das Erlebnis bei dem Mann eine Regression ausgelöst hatte. Sein erwachsenes Ich war sozusagen hinten rübergefallen. Er konnte nicht mehr das Verhalten der Frau als unangemessen aggressiv bewerten und sich weder innerpsychisch abgrenzen noch ihre Aggression zurückweisen.

Dieses kleine Beispiel macht deutlich, wie destruktive Symbiosen in uns wirken: unbewusste und ungelöste kindliche Anteile werden in bestimmten Situationen getriggert und entfalten oft starke symbiotische Gefühle wie hier das Gefühl des Verlassen-Werdens. Diese Gefühle überschwemmen uns dann und überwältigen unser gesundes Ich-Gefühl. Identifiziert mit diesen alten Gefühlen, können wir nicht mehr erkennen, dass diese Gefühle nicht der aktuellen Situation angemessen sind. Der emotionale Stress wird so stark, dass wir keine Handlungsalternativen mehr abwägen können, nicht mehr für uns eintreten können. Unsere Selbstregulation läuft aus dem Ruder, wir landen im Kampf-oder-Flucht-Modus; schlimmstenfalls dissoziieren wir und spalten uns von der Situation komplett psychisch ab.

Folgen destruktiver Symbiosen

mann frau gefesselt

Hier lässt sich ahnen, dass symbiotische Anteile und ihre Neigung zu extremen Gefühlen schnell zur Ursache von Gewalttaten werden können. Andere Folgen von destruktiven Symbiosen sind sowohl Bindungsangst als auch Bindungssucht. Der lonesome Cowboy repräsentiert den Typen, der die Einsamkeit einer Beziehung vorzieht, weil er immer wieder die Erfahrung macht, dass das Zusammenleben ihn massiv triggert und er nicht in der Lage ist, Beziehungen zu gestalten. Das Gegenbeispiel ist der Ja-Sager bzw. die Ja-Sagerin. Beide unterwerfen sich einer Beziehung – sei es zu einem Partner oder einer Organisation – weil Eigenständigkeit, das Vetreten einer eigenen Meinung für sie mit unerträglichen Gefühlen verbunden ist. Hier findet man auch Menschen, die in einer co-abhängigen Symbiose mit gewalttätigen und süchtigen Partnern verharren. Deren negative Zuwendung gibt ihnen Bedeutung und sie verwechseln sie mit Liebe.

Dann fallen die ewigen Helfer und Helferinnen ein, die immer wieder das schöne Gefühl, unterstützen zu können, gebraucht zu werden, unentbehrlich zu sein hervorrufen müssen. Oft nehmen sie gar nicht wahr, dass auf diese Art und Weise keine echten Beziehungen entstehen. Sie suchen ihr Glück in der Anerkennung von anderen und verpassen das Glück und die Selbstliebe im Innern.

Auch im Alleinsein wirken symbiotische Anteile und erzeugen alte unerträgliche Gefühle, was die vielen negativen Gedanken, mit denen wir uns selbst bedenken, zeigen. Um diese dann abzuwehren und auszuhalten, entwickeln viele Menschen Süchte. Diese reichen von substanzgebundenen Abhängigkeiten an Nikotin und Alkohol, Drogen und Medikamenten zu substanzlosen Abhängigkeiten zu Joggen und Zocken, Sex und Porno. Noch wenig diskutiert wird die verbreiteten, aber unzulänglichen Versuche, die innere Leere durch Kaufen oder narzistische Selbstbezogenheit zu füllen.

In jedem Fall lässt uns ein symbiotischer Komplex immer wieder die gleichen Gefühle fühlen und die gleichen Entscheidungen treffen. Die Entscheidungen fühlen sich gut an, weil sie die negativen Stimmungen vertreiben, aber sie sind schlecht für uns und unsere Umwelt. Diese immer gleichen Entscheidungen sorgen dafür, dass wir immer in den gleichen Situationen landen und dass wir immer wieder an die gleichen Partner geraten. So grüßt ewig das Murmeltier.

Wie symbiotische Komplexe entstehen

Menschen brauchen gute Beziehungen. Kein Baby kann überleben ohne eine fürsorgliche Bezugsperson. Auch als Erwachsene brauchen wir Austausch und Resonanz von und mit Partnern, in großen und kleinen Gruppen bis hin zu Städten und Staaten und wir sind auf dem Weg zu realisieren, das jeder Einzelne Teil der globalen Menschheitsfamilie ist. Wir brauchen konstruktive Symbiosen.

Sowohl konstruktive als auch destruktive symbiotische Komplexe entstehen durch unsere vor allem frühen Bindungserfahrungen. Eine gute Erwachsener-Kind-Beziehung vermittelt die Grundgefühle, gewollt, geliebt und geschützt zu sein. Diese Gefühle bilden die Grundlage für eine gesunde Selbstliebe, das Gefühl bei mir und in der Welt zuhause zu sein. Wenn ich mir und meinen guten Bindungen sicher bin, dann kann ich mich aufmachen und groß werden. Ich habe die Basis für eigene Ansichten und Handlungen, Erfolge beflügeln mich. Werfen mich Misserfolge aus meiner emotionelen Bahn, helfen mir meine erwachsenen Begleiter, mich wieder zu regulieren und auch diese Erfahrungen zu integrieren und es beim nächsten Mal besser zu machen. So wachse ich mit jedem Schritt meiner eigentlichen Größe entgegen.

Leider werden wir in der Regel von mehr oder weniger traumatisierten Bezugspersonen erzogen. Diese machen es so gut sie können, aber auf Grund ihrer seelischen Verletzungen können sie unsere Bedürfnisse nur bedingt erfüllen und um zu überleben, sind wir zur Anpassung gezwungen. Auch hier ein Beispiel: Wenn ich eine traumatisierte und/ oder depressive Mutter habe, wird es schwer bis unmöglich sein, meine Lebendigkeit voll zu entfalten. Wahrscheinlich wird sich die psychisch kranke Person durch mein Lachen und Toben gestört fühlen, zumindest aber kann sie mir keine Resonanz auf mein vitales Tun geben. Was bleibt, ist das Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmt, dass es so, wie ich es mache, nicht richtig ist. Die Folge kann ein unbewusster Glaubenssatz sein, in etwa: Herumtollen stört oder Lebendigkeit ist unangenehm. In Situationen mit anderen Menschen kann dieser Glaubenssatz schnell aktiviert werden und führt zu einer Zurücknahme der Vitalität. Auch ist es möglich, dass mich die Lebendigkeit anderer stört, weil ich meine eigene nicht leben darf.

In einem Punkt gleichen sich alle destruktiven symbiotischen Verstrickungen: Das Wechselspiel aus Bindung und Autonomie gelingt nicht recht. Sich sicher gebunden fühlen und aus dieser basalen Wohlfühlzone gut in die Welt hinauszugehen, um zur rechten Zeit wieder in die Bindung zurückkehren zu können, ist nicht verinnerlicht. Stattdessen erleben wir einen lebenslangen Kampf zwischen dem Versuch, Bindung zu suchen und davor zu flüchten, zwischen dem Wunsch psychisch selbstständig zu werden und der Angst davor. Dieses symbiotische Bindungsverhalten macht viele sozialen Situationen schwierig. Es ist wie eine Sprache, die wir nur unzureichend gelernt haben und die so immer wieder zu Missverständnissen führt. Es wird dringend Zeit, dass wir uns anschauen, wie wir diese immer wieder stockende Sprache überformen können.

Was kann man tun, um destruktive symbiotische Verstrickungen zu überwinden?

fesseln sprengen

Eine allgemeine Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Jeder Mensch ist anders und genau da liegt die Lösung: Werde der oder die, der/ die bist, denn alle anderen gibt es schon, so hat es einmal der irische Schriftsteller Oscar Wilde formuliert und schon über dem Orakel von Delphi im antiken Griechenland stand: Gnothi seauton! Erkenne dich selbst!

Wir kommen um die Aufgabe der Selbstwerdung, der Individuation, er Selbstliebe und des Selbstvertrauens nicht herum. Oft beginnt er der lange Weg zu mir selbst mit einer 180-Grad-Wende. Am Anfang steht die Absicht, mich selbst in das Zentrum meines Lebens zu stellen; die Absicht, meine Energie und Aufmerksamkeit einzusetzen, um herauszufinden, wer ich wirklich bin und die Bereitschaft, mich selbst, das Leben und andere Menschen völlig neu zu sehen.

Es geht darum Klarheit zu gewinnen, über die Gedanken und Gefühle, die in mir auftauchen; welche sind wirklich meine und welche sind durch symbiotische Erfahrungen entstanden? Nicht liebevolle Gedanken über mich selbst und autoaggressive Gefühle sind eher anerzogen. Durch diese achtsame Selbstwahrnehmung wird die Verstrickung offensichtlicher und auf diesem Wege kann man sich allmählich davon distanzieren.

Symbiotische Gefühle fühlen sich oft gut an. Wenn ich doch wieder helfe, wenn ich wieder ja sage, obwohl ich keine Lust habe, kann sich das zunächst vertraut anfühlen. Anders fühlt es sich an, wenn ich anfange, mich abzugrenzen und meine eigene Position zu vertreten. Schnell melden sich hier das schlechte Gewissen oder ein Gefühl von Leere. Deshalb ist es schwer, auf symbiotische Gefühle zu verzichten, aber es ist unumgänglich. Wer erwachsen sein will, muss auch Entscheidungen treffen, die sich schlecht anfühlen, aber gut für uns selbst sind.

Meistens wissen wir genau, wer uns nicht gut tut: verstrickende Partner, traumatisierende Familienangehörige, arschige Kollegen, der Umgang mit ihnen fühlt sich vertraut an, doch immer wieder verletzen sie uns. Wir machen das Spiel mit, weil wir die Bindung nicht verlieren wollen, aber so bleiben wir klein und in der Symbiose verfangen. Besser ist es, zunächst innerlich auf Distanz zu gehen und gleichzeitig gute, neue Beziehungen einzugehen. Oft ist es notwendig, destruktive narzistische Partner zu verlassen. Auch Eltern überleben es, wenn man nicht mehr täglich bzw. wöchentlich mit ihnen telefoniert.

Eine der wichtigsten Übungen für verstrickte Menschen ist es, nein zu sagen. Wie viele Male haben wir ja gesagt, obwohl wir nein meinten! Dieses Ja nach außen war ein Nein nach innen, genauso wie das Nein nach außen ein Ja nach innen ist. Zu fühlen was wir wollen und nicht wollen, muss oft neu gelernt werden wie der Mut, unsere Wahrheit auszusprechen. Hier ist es hilfreich, sich in kleinen harmlosen Situationen auszuprobieren und die Wirkung zu studieren. Nur mit klaren Wünschen und Grenzen kann ich selbstbestimmt werden; das gilt auch für meine Sexualität.

Zu überleben braucht Kraft, wirklich zu leben, mit meiner eigenen Tiefe verbunden zu sein, frei zu sein und verbunden zu sein, zu wissen wer ich bin und warum ich auf dieser Erde lebe, das braucht Mut und Geduld und schafft Erfüllung und führt mich zu meiner Bestimmung: ich selbst zu sein, nicht mehr und nicht weniger.

Autor: Peter Klapprot, Heilpraktiker (Psychotherapie)
Thema: Unsere symbiotischen Verstrickungen und wie wir uns daraus befreien können
Webseite: https://www.psychotherapie-ruhr.de

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