Besser Abgrenzen, wie geht das?
Der eine lässt sich die Ohren voll quatschen und ist nur genervt, der andere lässt sich sogar davon runter ziehen, wenn ihm seine Mitmenschen ihre Probleme lang und breit erzählen. Und manch einer macht sich mehr Gedanken über die Lösung der Probleme seiner Mitmenschen als über die der eigenen...
Die andere kann nicht NEIN sagen, und lässt sich immer wieder dazu verleiten, Dinge zu tun, auf die sie eigentlich keine Lust hat. Aber man will ja zeigen, dass man hilfsbereit ist, man will niemanden verletzen oder enttäuschen…
Dann gibt es noch die, die sich ständig verpflichtet fühlen, für alle und jeden da zu sein, zu HELFEN, weil sie es mit ihrem eigenen Mitleid nicht aushalten…
Wenn man das Thema noch ein wenig vertieft, dann geht es auch noch um die Frage, welche Zeitschriften und Bücher lese ich, welche Infos ziehe ich mir rein, welche Filme sehe ich mir an, auf welche Diskussionen lasse ich mich ein, befasse ich mich mit Klatsch und Tratsch und mache mir Gedanken darüber, was im Leben meiner Mitmenschen falsch läuft… womöglich mehr als über das eigene Leben?
Es gibt viele Varianten, wie das Nicht-Abgrenzen aussehen kann. Anscheinend ist es ein Thema, von dem sich so ziemlich jeder auf die eine oder andere Art betroffen fühlt.
Warum ist es so schwierig, sich abzugrenzen?
Wir sind soziale Wesen. Weil ein Mensch alleine in grauer Vorzeit kaum überleben konnte, haben wir immer schon in Sippen und Gruppen gelebt. Und wir wurden zu Höflichkeit erzogen, wahrscheinlich aus genau dem selben Grund, nach dem Motto: stell dich schon mal besser mit dem anderen, vielleicht brauchst du ja irgendwann seine Hilfe. Aus Höflichkeit hören wir zu, auch wenn es uns nervt, sagen wir ja, wenn wir nein sagen wollen und bieten wir unsere Hilfe an, obwohl wir eigentlich gar keine Lust und Zeit haben, zu helfen.
In meiner Berufstätigkeit als Krankenschwester habe ich 7 Jahre auf einer akuten Suchtstation gearbeitet. Das war mein Intensivkurs zum Thema Abgrenzung.
Da habe ich gelernt, mir immer folgende Fragen zu stellen:
- Warum rege ich mich eigentlich gerade auf? Ist das sinnvoll? Ist es überhaupt sinnvoll, dass ich mich mit dieser Thematik befasse? Ist damit jemandem geholfen?
- Was hat das mit mir zu tun? Was macht das mit mir, was hier gerade passiert?
- Worum geht es eigentlich? Ist das mein Problem? Ist das meine Verantwortung?
- Wo hört meine Verantwortung auf, wo fängt die des anderen an?
Was ich da auch gelernt habe: ich kann niemanden sein Problem abnehmen. Gerade Suchtpatienten helfe ich nicht, wenn ich ihnen zu viel helfe, denn damit verringere ich den Veränderungsdruck, den sie sich durch ihr Problem aufgebaut haben. Also oberstes Gebot, ich helfe nur, wenn ich darum gebeten werde, und dann nur in einem vernünftigen Rahmen.
Das hört sich erst einmal nicht „nett“ an. Wenn man sich wirklich mit diesem Thema auseinandersetzt, versteht man die Sinnhaftigkeit. Man kann die Sache auch von der anderen Seite her betrachten...
Wie kann wirkliche und gute Abgrenzung aussehen?
Das ist, wenn ich bei mir bleibe, bei meinen Gefühlen, in meinem Leben, bei meinen Zielen und Werten, wenn ich mich in Achtsamkeit übe und ganz im Hier und Jetzt und bei mir bin. Je klarer ich mir über meine Gefühle und meine Ziele und Werte bin, desto leichter wird es mir fallen, bei mir zu bleiben. Je unklarer ich bin, desto manipulierbarer bin ich. Für meine Mitmenschen und durch die Informationsflut, die täglich über uns hereinbricht. Letztendlich geht es darum, einen gangbaren Weg zwischen der Achtung der eigenen Bedürfnisse und Wahrung der Erfordernissen des sozialen Zusammenlebens zu finden.
Man kann ein Gespräch, das einem nicht gut tut, durchaus auf ein höfliche Art und Weise beenden bzw. auf andere Themen lenken. Z. B. indem man sagt, das Gespräch tut mir gerade nicht gut, darüber möchte ich lieber nicht reden, über dieses Thema möchte ich nicht mehr nachdenken, oder das zieht mich runter, reden wir lieber über etwas anderes…
Niemand ist dazu verpflichtet, sich zum fünften Mal die Geschichte vom Durchfall des Hundes der Nachbarin an zu hören. Vielleicht wäre ein erster guter Schritt in Richtung Abgrenzung, sich öfter bewusst zu machen, was gerade passiert. Ob mich jemand wieder mit seiner Problemsoße übergießt, ob jemand versucht, mir einen Teil Verantwortung für seine Angelegenheiten aufzubürden und auch nicht zuletzt darauf zu achten, was wir täglich an geistigen Inhalten aufnehmen und was das mit uns macht. Wenn wir überlegen, ob wir einen Artikel lesen wollen, schon im Vorfeld zu überlegen: worum geht es da vermutlich und welche Emotionen möchte der Autor bei mir wecken. Und wird mir das gut tun? Wie werde ich mich danach fühlen? Je häufiger ich mir diese Frage stelle, desto öfter passiert es, dass ich etwas lieber NICHT lese.
Ich glaube, das mit der Abgrenzung fällt uns deshalb so schwer, weil wir alle erzogen wurden zu Nächstenliebe, zu Hilfsbereitschaft oder zumindest zu Höflichkeit.
Aber sogar in der Bibel heißt es, „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“.
Da steht nicht, liebe deinen Nächsten und vergiss dich selbst. Da steht auch nicht, liebe deinen Nächsten und vernachlässige deine eigenen Bedürfnisse!
Eine weitere gute Frage, die wir uns in diesem Zusammenhang noch stellen können ist:
Kümmere ich mich gerade mehr um die Bedürfnisse von jemand anderen als um meine eigenen? Das darf auch hin und wieder so sein, wenn es die umgekehrte Situation genau so oft gibt. Insgesamt sollte das Geben und Nehmen in jeder Beziehung auf längere Sicht ausgeglichen sein. Zum Geben gehört natürlich auch Zuhören und jemandem Aufmerksamkeit schenken. Wenn wir das im Auge behalten, sollte uns das mit der Abgrenzung in Zukunft immer besser gelingen.
Autor: Marianne Reiling-Probst, Heilpraktikerin
Thema: Hilfe, ich kann mich nicht abgrenzen!
Webseite: https://praxis-mrp.de
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