Gleich einmal vorweg, für alle Eltern, die bei der Überschrift verärgert sind: Bitte lesen Sie meinen Artikel einmal bis zum Ende – ich bin nämlich selber Mutter eines solchen, besonderen Kindes. Mein Sohn ist bereits erwachsen und Autist. Ich weiß also, wovon ich schreibe.
Vor einigen Jahren noch, aber auf jeden Fall eine Generation vor uns, war das Wort „behindert“ ein häufiges Wort. Es galt als Synonym für eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung, aber vor allem als Zeichen dafür, nicht „richtig“ zu sein und natürlich für manche sogar als Schimpfwort. Ich erinnere mich an entsprechende Kommentare gegenüber meinem Sohn auf dem Schulhof oder im Freibad. Für mich immer eine schmerzhafte Erfahrung, für ihn sowieso. Kennen Sie das?
Welche Bedeutung hat das Wort Behinderung?
Nehmen wir das Wort doch einmal auseinander, was genau bedeutet es? Jemand hat eine
Be-hinderung. Also ist er oder sie an irgendwas gehindert. Gehindert daran, so zu funktionieren wie wir es gern hätten? Also der Rest der Gesellschaft? Gehindert daran, alles „normal“ zu machen? So gesehen: ja! In dem Sinne hat mein Sohn eine Behinderung. Und viele andere Menschen auch.
Aber wenn man den Faden weiterspinnt, dann sind doch sehr viele Menschen be-hindert. Ist nicht auch der oberschlaue - aber etwas skurrile - Professor behindert? Oder wie ist es mit der Frau, die einen kleinen Putzzwang hat – hat sie eine Behinderung? Oder ist Jemand behindert, der/die eine Depression hat und deswegen nicht arbeiten kann? Wo fangen Behinderungen an und wo hören sie auf? Wann funktioniert ein Mensch, so wie er soll? Und wann nicht mehr? Wann ist eine Behinderung eine Begabung und wann ist sie ein Hindernis? Oder ist sie beides?
Oder nehmen wir doch einmal das beliebte Wort „Störung“. Wer sagt denn bitte, dass ein Mensch gestört ist? Und ab welchen Punkt sind wir gestört, wie weit sind denn Störungen im Sinne von „anders sein“ normal? Wann fängt eine Störung an zu stören? Oder ist es genau diese Definition? Störungen sind es dann, wenn es stört? Aber wen stört es? Die Umwelt? Die Eltern?
Aus alle diesen Fragen heraus ist - zumindest bei Kindern - dann irgendwann die Bezeichnung entstanden: „besondere Kinder“.
Wie steht es um den Begriff – Besondere Kinder?
Schauen wir uns doch mal diese Begrifflichkeit an: Besondere Kinder. In dem Wort „besonders“ steckt ja auch ein „sondern“. Sondern…also in Sinne von „statt dessen“? Oder im Sinne von „ab-sondern“ – also „extra-sein“ – „für sich“ sein? Oder von allem ein bisschen?
Fakt ist doch, dass besondere Menschen, oft Dinge können, die andere nicht können. Und damit meine ich nicht nur die Inselbegabung eines Autisten, oder die Muskelkraft eines querschnittsgelähmten Jungen in den Armen. Sondern auch zum Beispiel das überaus sonnige Lachen und die Lebensfreude eines Mädchens mit Down-Syndrom.
Be-sondere Kinder haben häufig Qualitäten, die ein „Normalo“ nicht so einfach haben wird. Sie sehen Dinge anders und erweitern damit unseren Horizont. Sie können sich z. B. totlachen über Kleinigkeiten oder ganz gesellschaftsuntypisch mitten im Einkaufsladen ein Liedchen trällern. Diese jungen Menschen lehren uns, die Dinge einmal anders zu handhaben, die Lampen umzustellen, neu zu beleuchten und tolle Dinge zu entdecken.
Schauen wir uns unsere Kinder mit diesem neuen Blick an, stellen wir fest, dass sie ein Schatz für uns sind. Ja, natürlich auch eine Herausforderung. Und ich will gar nicht schmälern, was besondere Kinder oft auch für die Eltern an Zeit, Mühe, Betreuung, Liebe, Pflege und Gedanken kosten. Dennoch: Diese Kinder können jede/r einzelne für sich unsere Welt mit all ihren Regeln und Einschränkungen ein wenig bunter machen. Vielfältiger und „Be-sonderer“.
Familienalltag mit besonderen Kindern
Eltern und insbesondere die Mütter von besonderen Kindern haben diverse Herausforderungen zu meistern. Ämter und Behörden machen das Leben schwer, der Familienalltag und das Eheleben sind oft schwierig und die richtige Schule oder Einrichtung zu finden scheint manchmal unmöglich. Lehrer sind nicht ausgebildet, Integration nur ein Wort und Teilhabe am „normalen“ Leben nur Theorie.
Die Behandlungen, sofern es denn welche gibt, sind weit weg und müssen oft privat gezahlt werden. Diverse Anlaufstellen sollen das Leben erleichtern und machen es durch Bürokratie letztendlich unendlich viel schwerer. Da gibt es z.B. einen Anspruch auf Hilfe xyz, und weil das Kind ein Jahr zu alt ist (und somit gesetzlich erwachsen statt jugendlich) fällt diese Hilfe weg. Ganz zu schweigen von den wenigen Hilfen, die eigentlich viel mehr sein müssten, für das, was diese Eltern leisten. Sie wissen sicher, was ich meine, fast jede Familie kann über die Erlebnisse mit der lieben Bürokratie ein Buch schreiben…
Reaktionen von Mitmenschen auf Behinderungen
Besonders zu erwähnen sei noch die Reaktion der Umwelt. Ist das Kind oder der junge Erwachsene sichtlich behindert, wird oft betreten weggeschaut. Ganz bewusst so getan, als „sehe man es nicht“.
Oder: Manche Mitmenschen halten es dann für angebracht zu erwähnen, wie schlimm es doch ist, dass man „solch ein Kind“ hat. Ich weiß von Fällen, in denen die Mütter gefragt worden sind, warum sie dieses Kind nicht abgetrieben haben. Eine geradezu unmenschliche Reaktion, meiner Meinung nach.
Ältere Kinder oder Jugendliche sind da oft viel direkter, und manchmal auch grausamer in ihrer Art. Sie schauen nicht weg, machen aber manchmal flapsige oder gar verletzende Bemerkungen. Da wird auch das Wort „behindert“ mal als Schimpfwort benutzt oder der Junge mit Epilepsie als „Spasti“ bezeichnet.
Dabei wünschen wir Eltern dieser ganz besonderen Kinder uns oft einfach nur, dass man uns ganz normal dabei sein lässt. Kein unangenehmes Weggucken, keine Bemerkung, einfach nur ein Teil der Vielfalt des menschlichen Seins sein. Denn genau das ist es doch, oder? Egal ob sichtlich behindert, oder „auffällig“ oder geistig „eingeschränkt“. Letztendlich sind wir doch alle nur Menschen in ihrer ganzen Vielfalt des Seins. Und wenn wir alle ein wenig interessierter an unseren Mitmenschen wären, was würde das alles ändern.
Neue Freude- und Glücksmomente erleben
Mir ist aufgefallen, dass Eltern dieser ganz besonderen Kinder sich oft über ganz andere Dinge freuen können: Lisa-Marie kann plötzlich „Mama“ sagen obwohl sie bereits 10 ist. Oder Dennis ist 8 Jahre alt, hat ADHS und schafft es in der Mathearbeit erstmalig nicht aufzuspringen und eine 4 – statt eine 5 oder 6 - zu schreiben.
Nur besondere Eltern von besonderen Kindern können diese Freude und diesen Stolz auf das Kind verstehen. Denn schließlich ist es doch „normal“, dass ein Kind das kann?! Nein eben nicht, wir lernen hier, die kleinen Dinge wieder zu schätzen und als große Erfolge zu sehen.
Nichts ist mehr selbstverständlich. Als Eltern behinderter Kinder lernt man die Welt neu zu sehen.
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Tochter mit einer „Störung der Sprachentwicklung“. Die Kommunikation mit dem Kind ist also eingeschränkt aus Sicht der Schulmedizin. Dieses kleine Mädchen kann aber über ihr Gesicht sprechen, durch eine sehr eindrucksvolle Mimik kann sie genau zeigen, was sie will. Sie ist also nicht gestört, sondern einfach nur anders. Und wer mag schon sagen, welches Anderssein das Bessere ist. Solche Mütter und Väter erleben jeden Erfolg ihres Kindes anders mit. Es ist immer ein kleines oder großes Wunder. Achtsamkeit ist hier das Zauberwort. Diese Eltern sind achtsamer. Sie sehen die kleinen Dinge, schätzen jeden Erfolg und sehen Erfolge und Fortschritte nicht als selbstverständlich an. Und das nicht nur in Bezug auf ihr eigenes Kind (und natürlich die Geschwisterkinder), sondern, wer einmal gelernt hat, dass nichts selbstverständlich ist, der schaut auch bei seinen Freunden, Partnern, Nachbarn mit diesem ganz besonderen Blick. Dieser anderen Wahrnehmung, die besagt: „ich sehe Dich, ich sehe Dich wirklich an, ich nehme wahr, wie es Dir geht“. Und somit machen diese Menschen die Welt etwas wertvoller.
Fassen wir also zusammen:
Besondere Kinder sind besondere Herausforderungen, die Welt mit Ihnen ist nicht so, wie sie vorher war, stattdessen ist sie bunter (und meist auch anstrengender). Durch diese ganz wunderbaren Menschen, lernen ihre Eltern, nichts mehr als selbstverständlich hinzunehmen und tragen dieses Wissen auch in Ihre Umwelt.
Sind so gesehen diese Kinder nicht auch unsere Lehrer?
Oder wer es spirituell mag: Unsere Engel?
Ich wünsche mir und Ihnen, dass immer mehr Menschen unsere tollen Kinder als genau das sehen:
Kleine Menschen, die uns lehren die Welt einmal anders zu sehen – und viel „normaler“ sind als Sie und ich :-)
In diesem Sinne: Alles Gute Ihnen und Ihren Lieben!
Ihre
Sabine Rudolph-Nolte
Lesetipp für Kinder: Lilli - Eine Geschichte für Kinder und Kindgebliebene
Autor: Sabine Rudolph-Nolte
Thema: Behinderte Kinder – besondere Kinder!?
Webseite: http://www.praxis-sabine-nolte.de