Ein morgendlicher Film
Montag Morgen: 6:30 Uhr auf der Fahrt im PKW von A. nach B. zur Arbeit. Nach 2 Kilometern der erste Stau und der Verkehrsfunk meldet einen Unfall auf der Strecke. „Oh nein. Das schaffe ich niemals pünktlich zur Arbeit. Ausgerechnet heute, wo um 09:00 Uhr ein wichtiges Meeting ansteht.“
Von den 76 zu bewältigenden Kilometern sind erst 2,5 km geschafft und es geht im Schneckentempo weiter. Rufe ich jetzt schon meine Kollegen an und teile mit, dass ich mich verspäte oder warte ich noch zu? Sozialer Stress oder umgangssprachlich Unruhe macht sich in mir breit. Meine Atmung geht schneller, ich bemerke Wut in mir aufsteigen. Mein Herzschlag erhöht sich – „ich habe Puls“ sozusagen. Ich checke kurz die Umleitungsmöglichkeiten, aber auch auf den Ausweichstrecken sieht es nicht besser aus. Mit schwindender Zeit erhöht sich meine Adrenalinausschüttung, ich bekomme feuchte Hände und auch Kopfschmerzen – eindeutig einen Spannungskopfschmerz. Ich sehe nur noch eine Blechkolonne vor mir und die Bremslichter der vor mir fahrenden Autos reizen mich in vielfacher Hinsicht.
Angekommen im Unternehmen mit 20 minütiger Verspätung. Das Meeting hat bereits begonnen und ich muss zusehen, wie ich den Anschluss an die Tagesordnung in die laufende fachliche Diskussion bekomme. Ich bemerke an mich gerichtete Blicke der KollegInnen und des Teamleiters – was sagen die aus? – sind das vorwurfsvolle Gesten? - „Wo bleibst Du denn? Den wichtigen Einstieg hast Du mal wieder verpasst!!“ raunzt ein Kollege von links. Ich fühle mich erschöpft und muss funktionieren, professionell agieren und mein Statement zu der Dienstsache beitragen. Die Kopfschmerzen nehmen zu. Ich werde ohne „Hilfsmittel“ (Schmerzmittel) den Tag wohl nicht überstehen. Wann ist Pause? – Noch lange nicht...ich kann kaum den Gesprächen folgen, tue aber wissend interessiert. Nach der Arbeit noch Einkäufe erledigen und die Tochter abholen. „Bleib bei der Sache“ mahnt mich eine innere Stimme. Dieser Arbeitstag hat 9,5 Stunden excl. 30 Minuten Pause, excl. 4,5 Stunden Lebenszeit, die ich auf der Autobahn verbracht habe. Und die Tochter reagierte verärgert, weil ich es nicht pünktlich zu ihr geschafft habe.
Dieses Beispiel als Einstieg zum Thema „Sozialer Stress“ zeigt einige Faktoren die zur Entstehung von Stress beitragen können: soziale Dichte und Lärm im Straßenverkehr, hohe Mobilitätsanforderungen, Reizüberflutung, Zeitdruck, hohe quantitative und qualitative Anforderungen mit geringem Handlungsspielraum am Arbeitsplatz, fehlende soziale Unterstützung am Arbeitsplatz, hier eher Vorwürfe oder Nichtbeachtung, letztlich Konflikte mit KollegInnen und auch mit Familienangehörigen, all das ist sozialer Stress. Auch meine Vorstellungen und Wertungen über mögliche Gedanken von KollegInnen zur Situation, meist negativer Art, können meinen subjektiv empfundenen Stress begünstigen.
Der Mensch ist ein soziales Wesen, d.h. wir leben ständig im Wechselspiel mit anderen Menschen, mit unserer Umwelt und deshalb spielen Störungen von psychosozialen Beziehungen eine tragende Rolle bei der Auslösung von Stress in Kombination mit Angst. Dabei muss die Bedrohung nicht real sein, sie kann auch „nur“ in der Vorstellung existieren. Entscheidend für die Dauer der Stressreaktion ist allein die individuelle Bewertung ob eine Situation als kontrollierbar (d.h. ich kann die Situation bewältigen ohne Schaden zu nehmen) oder als nicht kontrollierbar (dies würde in Katastrophendenken münden und evtl. einen Zusammenbruch/ BurnOut/ Nockout/Erstarren mit sich bringen) wahrgenommen wird.
Multitastking fördert sozialen Stress
Menschen, die mich wegen Stressbewältigung aufsuchen, berichten zunehmend von einer erwarteten hohen Flexibilität am Arbeitsplatz durch ihre Vorgesetzten oder auch durch die Unternehmensleitung. Nicht nur hinsichtlich der Arbeitszeiten sondern auch der Bereitschaft, Arbeit von KollegInnen zu übernehmen in z.B. sog. „Stoßzeiten“ des Unternehmens. Sie schildern auch Erwartungen von kontinuierlicher Qualifizierung – „on Top“ - des zu erbringenden Leistungsspektrums. Zeit-und Leistungsdruck, permanente Informationsflut und fast durchgehende Erreichbarkeit für die Firma kommen als weitere wesentliche Stressfaktoren hinzu. So ist ein 16-Stunden-Tag für viele Menschen, gerade für solche die sich auf der Karriereleiter befinden, ein normaler Arbeitstag.
Je mehr Zeit dem Arbeitsleben gewidmet wird, umso weniger Zeit bleibt für das Private. Der Mensch ist aber ein soziales Wesen - Soziale Beziehungen werden von den Menschen, die wegen Überlastung und Ausgebrannt-sein meine Praxis aufsuchen seltener oder wenn, dann eher oberflächlich gepflegt. Dabei „helfen“ auch die modernen Medien wie die sog. „sozialen Netzwerke“ oder die Kommunikation über Nachrichtendienste. Wirkliche Beziehungsqualität die wir alle durch emotional tragfähige Beziehungen zu realen Menschen brauchen, finden wir mit diesen digitalisierten Techniken nicht. Auch die diversen und wirklich kreativ gestalteten Emojies ersetzen keine direkte menschliche Begegnung. Denn nur von Mensch zu Mensch, vis á vis, findet durch die wahre Gestik, die wahre Kommunikation, das wahre (Mit-) fühlen und das wahre (Mit-) teilen echte Beziehung statt. Authentizität und Empathie können nur durch wahre zwischenmenschliche Beziehungen entstehen, gelernt und gelebt werden – nicht durch Digitalisierung und Technik.
Das eigene Rollenspektrum schrumpft auf die Rolle des Arbeitenden, des Leistungsmenschen. Für Bewegung bleibt meist keine Zeit, ebenso nicht für gelebte emotional tragfähige Beziehungen.
Viele Fachleute berichten von sog. Eustress und Disstress – einem „positiven“ und einem „negativen“ Stress. Ich halte diese Unterscheidung für falsch. Denn physiologisch und auch neurobiologisch spielen sich bei beiden Stressarten exakt dieselben Reaktionen ab: es kommt zu einer verstärkten Ausschüttung von Noradrenalin, welches eine Aktivitätserhöhung der Neuronen im Cortex und im limbischen System bewirkt. Spürbar an einer gesteigerten Erregbarkeit und Aufmerksamkeit (Alarmbereitschaft). Wird auf diese Weise keine geeignete Antwort auf die Situation im Sinne einer Entlastung gefunden, hangelt sich das Erregungspotential weiter aufwärts und bekommt eine direkte Wirkung auf den Hypothalamus, der die Ausschüttung weiterer Hormone befiehlt. Die Folgen sind u.a. ein erhöhter Blutzuckerspiegel, ein erhöhter Blutdruck, eine Erhöhung der Blutzirkulation (Herzrasen).
Es kommt auf jeden Fall zu einem biochemischen Ungleichgewicht, welches sich auf das körperliche Befinden auswirkt. Wenn jemand durch die positive Bewertung des Stresses euphorisch erscheint und energetisch „aufgeladen“ ist, wird dieser Mensch einige Zeit benötigen um wieder „runterzukommen“, soll heißen in psychische und körperliche Balance zu finden.
Prävention und Gesundheitsförderung
Wer rechtzeitig lernt, besser mit seinem sozialen Stress umzugehen, kann möglichen Krankheiten vorbeugen. Dazu gibt es verschiedene Gruppenangebote, in denen Strategien zur kurz- und langfristigen Stressbewältigung erlernt werden können. „Der erfolgreiche Umgang mit täglichen Belastungen – ein Programm zur Stressbewältigung/IFT bietet den Teilnehmern die individuelle Analyse der jeweiligen aktuellen Situation:
- welche Situation belastet mich?
- Wie reagiere ich normalerweise auf diese Belastungen?
- Wiese lösen sich die Belastungen nicht von selbst?
Neue Strategien werden erlernt: Entspannungstechniken, kontrollierte Zuwendung, positive Selbstinstruktion, systematisches Problemlösen, Einstellungsänderung, Zeitmanagement, stressausgleichende Aktivitäten.
Neben dem was der Einzelne für seine Gesundheit tun kann, sind auch Betriebe gefragt, die Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden so zu gestalten, dass sie zur Gesunderhaltung beitragen. Mitarbeitern sollten zudem eigene Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt werden, etwa durch flexible Arbeitszeitmodelle.
Autor: Ilse Hennerkes
Thema: Sozialer Stress
Webseite: http://praxis-ilsehennerkes.de
Autorenprofil Ilse Hennerkes:
Heilpraktikerin Psychotherapie/HeilprG
Trainerin f. Stressmanagement/IFT
Suchttherapeutin/FDR
Supervisorin & Coach