Unsere heutige Welt stellt uns täglich vor Herausforderungen, in denen wir uns entscheiden müssen, wie wir zu einer Sache stehen, wie wir handeln, was wir tun oder unterlassen. Wo gehen wir mit? Wie weit? Und wo oder wann sagen wir „ohne mich!“? Viele dieser Entscheidungen haben teils langfristige Folgen für uns und Menschen in unserem Umfeld.
Ein Beispiel aus der Arbeitswelt
Im Rahmen meiner Tätigkeit als psychologische Beraterin arbeite ich oft in Unternehmen mit Menschen zum Thema „sicher und gesund arbeiten“. In diesem Zusammenhang stelle ich gern die Frage in die Runde:
„Wer ist hier bei Euch verantwortlich für Arbeitssicherheit?“ - Bis vor einiger Zeit kam dann fast einstimmig die Antwort: „Der Arbeitgeber“.
Im Duden findet man zum Begriff „Verantwortung“ folgende Definitionen:
- [mit einer bestimmten Aufgabe, einer bestimmten Stellung verbundene] Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass (innerhalb eines bestimmten Rahmens) alles einen möglichst guten Verlauf nimmt, das jeweils Notwendige und Richtige getan wird und möglichst kein Schaden entsteht
- Verpflichtung, für etwas Geschehenes einzustehen [und sich zu verantworten]
Die Antwort war also richtig. Der Arbeitgeber ist verantwortlich dafür, die Tätigkeiten auf ihre Gefährdung hin zu analysieren und alle nötigen Maßnahmen einzuleiten, die diese Gefährdung beseitigen oder zumindest reduzieren. Ansonsten muss er mit Strafen rechnen, zumindest wenn ein Unfall passiert.
Wenn ich heute dieselbe Frage nach der Verantwortung stelle, kommt – auch meistens einstimmig – folgende Antwort: „Jeder von uns.“
Was ist in der Zeit zwischen den beiden Antworten geschehen?
In den Unternehmen hat eine Kulturentwicklung stattgefunden, die bei den Mitarbeitenden die Erkenntnis gebracht hat, dass sehr wohl alle Sicherheitsmaßnahmen durch den Arbeitgeber eingeleitet werden müssen, dass aber jeder einzelne sie auch annehmen, umsetzen und gegebenenfalls einfordern oder weiter verbessern muss, damit sicheres und gesundes Arbeiten möglich ist.
Bei den Mitarbeitenden dieser Unternehmen ist ein Verantwortungsbewusstsein herangereift, das sie befähigt, ihren Teil an Verantwortung zu übernehmen. Bei ihnen liegt der Fokus zunächst darauf, für sich selbst zu sorgen, d.h. angebotene Schutzeinrichtungen auch zu nutzen, vorausschauend zu handeln und im Zweifel die Arbeit zu unterbrechen, bis sie sicher ausgeführt werden kann. Darüber hinaus bringen sich auch viele ein, um die Sicherheit der Kollegen zu gewährleisten und die Sicherheitsstandards für alle weiterzuentwickeln. Sie zeigen also auch hier verantwortungsbewusstes Handeln.
Ganz aktuell
Im Alltag haben wir alle in jüngster Zeit durch die Hygienemaßnahmen im Rahmen der Pandemiebekämpfung einen Appell an unser Verantwortungsbewusstsein erhalten – die Husten-und Niesetikette, das Abstandhalten, das Tragen der Maske, die Reduzierung von Kontakten. Nicht zuletzt das Testen und das Wahrnehmen des Impfangebotes werden mit dem Hinweis auf Verantwortung für das eigene Schicksal und das vulnerabler Personen sowie auf unser Gesundheitssystem angeboten – aber umsetzen müssen wir es, jeder einzelne.
Alles das sind Angebote und von Fachleuten erarbeitete Maßnahmenvorschläge, deren letztendliche Annahme und Nutzung (noch überwiegend) in unserem persönlichen Verantwortungsbereich liegt. Wir erfahren gerade ein gutes Beispiel dafür, wie die Tatsache, das Verantwortungsbewusstsein zu teilweise konträren Meinungen und Verhaltensansätzen führt, eine Zerreißprobe für unsere Regierung und für unsere Gesellschaft darstellt.
Verantwortung hat immer auch mit Schutz zu tun – Schutz anderer und Eigenschutz
Der Begriff „Verantwortung“ ist eng gekoppelt mit dem Begriff „Schutz“. Fast immer geht es bei der Übernahme von Verantwortung darum, etwas oder jemanden vor Schaden zu bewahren, also zu schützen, und dafür im Schadensfall gerade zu stehen.
Die aktuellen Diskussionen auf breiter Ebene zeigen uns gerade, dass man sehr hitzig darüber diskutieren kann, wie weit verantwortliches Handeln zum Schutze anderer denn das eigene Leben, den eigenen Komfort, das eigene Wohlergehen tangieren darf. Sie zeigen auch, dass Verantwortungsbewusstsein etwas sehr Individuelles ist und nicht „mit der Gießkanne“ verteilt werden kann. Darüber hinaus zeigen sie auch sehr deutlich, dass eine fehlende innere Haltung als Voraussetzung für ein gutes Verantwortungsbewusstsein nicht aus dem Stand hergestellt werden kann. Sie entsteht als Ergebnis eines gut geleiteten Entwicklungsprozesses, sei er nun erzieherischer, gesellschaftlicher oder unternehmerischer Natur.
Wer bestimmt denn nun das Maß an Verantwortung, die jeder hat? Wer setzt den Rahmen für das Verantwortungsbewusstsein, das erwartet werden kann? Woran misst es sich denn praktischerweise?
Überall dort, wo Verträge auf Basis von Gesetzen und Regeln gemacht werden, sind diese Fragen relativ leicht zu beantworten. Das Arbeitsschutzgesetz zum Beispiel gibt recht klare Orientierung zur Verantwortung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Da kann man sich sozusagen durch Lesen das Bewusstsein für den Verantwortungsrahmen verschaffen.
Und wie ist das so im ganz normalen Leben? Eltern haben die Verantwortung für das Wohl ihrer Kinder. Eltern haften für ihre Kinder, d.h. müssen Verantwortung für die Taten ihrer Kinder übernehmen. Erwachsene Kinder übernehmen Verantwortung für das Wohl und ggfs. die Pflege ihrer Eltern. Auch diese Verantwortlichkeiten sind in vielen Aspekten, vor allem den finanziellen, gesetzlich geregelt und damit einigermaßen messbar.
Wie entsteht ein Verantwortungsbewusstsein?
Kommen wir zurück auf die Eingangsfrage und die beiden unterschiedlichen Antworten. An diesem Beispiel lässt sich die Entwicklung einer inneren Haltung erkennen, die den Mitarbeitenden den Mut gab, auch ihren Anteil an der Verantwortung zu übernehmen. Ihnen war bewusst geworden, dass ohne ihr Mitwirken zwar juristische Fakten wirksam wurden, sicheres Arbeiten für alle aber nur mit gemeinsamer Mitwirkung möglich werden würde.
Verantwortung (juristisch gemeint) ist meistens messbar und klar zu umreißen. Für das Verantwortungsbewusstsein gilt das eher nicht. Wo steht denn, wieviel Verantwortungsgefühl man im kollegialen oder gesellschaftlichen Miteinander braucht? Woher weiß man, wie man seine Kinder zu verantwortungsvoll handelnden Menschen erzieht? Heißt Verantwortungsbewusstsein denn immer „für andere“ oder auch „für mich selbst“?
Orientierung finden wir hierzu bei Vorbildern. Im Idealfall sind die Eltern solche Vorbilder, die uns von Klein auf zeigen, wie und wo sie verantwortungsbewusst handeln. Weitere Erwachsene wie Großeltern, Erzieher, Lehrer vervollständigen die Reihe dieser Vor-Bilder. Durch ihr Verhalten lernen wir, dass Verantwortungsbewusstsein ein erstrebenswerter Wert ist. Wir entwickeln ein Bewusstsein dafür, dass unser Handeln Auswirkungen auf andere hat, ein Bewusstsein für die Notwendigkeit eines gesunden Maßes an Eigenverantwortung, was die Selbstfürsorge und das Ergreifen von Entwicklungsmöglichkeiten einschließt, aber auch die Abgrenzung dort, wo wir keine Verantwortung übernehmen können oder wollen.
Später beginnen wir, verantwortungsbewusstes oder verantwortungsloses Verhalten von Freunden, Kollegen, Vorgesetzten und die entsprechenden Folgen ihres Handelns zu reflektieren und mit unserer Grundhaltung abzugleichen. Dadurch und auch durch Diskussionen und Gespräche können wir unser Verantwortungsbewusstsein ständig hinterfragen und im Zusammenhang mit unseren Lebensumständen, dem Zeitgeist und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Wandel verändern – dort wo es Sinn macht. Siegfried Lenz beschreibt in seinem Roman „Deutschstunde“ sehr eindringlich, wie ein von den Mächtigen eingetrichtertes irregeleitetes Verantwortungsbewusstsein zu großem menschlichem Leid führt, weil jemand nicht bereit ist, sein Verantwortungsbewusstsein neu zu justieren.
Verantwortungsbewusstsein ist ein individueller Wert mit gesellschaftlichen Auswirkungen
Die Klimathematik zum Beispiel wirft weitere Aspekte auf. Fühlen wir in der heutigen Erwachsenengeneration uns verantwortlich für das, was bereits geschehen ist, oder eher für das, was jetzt geschehen soll? Wie steht es eigentlich um das Verantwortungsbewusstsein der jungen Generation mit ihrem aktuell hohen Lebensstandard und ihrem Technikkonsum? Auch hier hören wir sehr unterschiedliche Schuldzuweisungen zu Vergangenem und verschiedenste Visionen für die Zukunft – alle aus großem, aber unterschiedlichem Verantwortungsbewusstsein heraus.
Wenn wir Verantwortungsbewusstsein definieren als „die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen“, dann ist es für unsere heutige Gesellschaft wichtiger denn je. Diese Fähigkeit zu erwerben, müssen wir unseren Kindern durch Vorleben und Gespräche als wichtigen Baustein für ihre persönliche Entwicklung und Handlungsfähigkeit ermöglichen. Die immer komplexer werdenden globalen Herausforderungen werden wir als Individuen und als Gesellschaft nur meistern, wenn wir und die kommenden Generationen ein klares Bewusstsein haben für das, was wir tun – und auch für das, was wir unterlassen zu tun. Denn für beides tragen wir Verantwortung.
Gleichzeitig ist es wichtig zu akzeptieren, dass Verantwortungsbewusstsein zu individuellen Schlüssen und Entscheidungen führt, die unterschiedlich bewertet werden können. Verantwortungsbewusstsein schließt also auch das Respektieren individueller Ansichten und die Offenheit für den Diskurs mit ein.
Autor: Martina Glassner - Psychologische Beratung, Personalentwicklung, Coaching
Thema: Warum ist Verantwortungsbewusstsein wichtig?
Webseite: https://www.glassner-beratung.de