Warum braucht der Mensch soziale Kontakte?

soziale-kontakte-freundeskreis

Stellen Sie sich vor: es ist Lockdown. Wer nicht dringend gebraucht wird, muss zu Hause bleiben. Das Szenario haben wir kennen – und teilweise fürchten – gelernt. Für manche Menschen, die im Alltagsstress mit zu vielen Aufgaben und wechselnden Standorten oft nicht mehr wussten, wo ihr Kopf gerade steht, war es endlich eine Möglichkeit zum Durchatmen, zu sich kommen, entschleunigen, wieder Kraft tanken. Für wieder andere war es ein Aushalten mit zu vielen Personen und zu vielen separaten Bedürfnissen auf zu engem Raum ohne ausreichende Privatsphäre. Für manche Menschen war es aber eine Zeit der Entbehrungen. Kein Kino mehr. Kein Treffen mit Freunden oder Familienmitgliedern. Kein Sportverein. Keine Ansprechpersonen mehr. Zum Glück gab und gibt es unsere elektronischen Möglichkeiten zum Kontakt: Telefon, Smartphone, Radio, Fernsehen, Computer. Für alle? Gerade die letzten Monate haben gezeigt, dass, wer nicht vernetzt war, kaum mehr Kontakt zur Außenwelt während der Lockdown-Zeit hatte. Eine der Folgen des Lockdowns für Menschen, die ungewollt kontaktlos geblieben sind, ist die Zunahme von behandlungsbedürftigen Depressionen und Ängsten.

einsamkeit mann fenster traurig

Zunehmend stelle ich auf der anderen Seite fest, dass es immer mehr Menschen in meinem Umfeld, aber auch meiner klinischen und praktischen Tätigkeit gibt, die nach getaner Arbeit sich nur noch zurückziehen, das Sozialleben meiden wollen, weil die Kraft und Energie nicht mehr da ist, um sich mit den Mitmenschen in der Freizeit und in einem geselligen und angenehmen Rahmen zu beschäftigen. Selbstgewählte Isolation, sozialer Rückzug aus der Erschöpfung des täglichen Lebens heraus. Nicht zuletzt gibt es viele Menschen in unserer Gesellschaft, die allein wohnen und kein familiäres oder partnerschaftliches Eingebunden-/Verbundensein leben. Teils ist dies ebenfalls selbst gewählt, teils den Umständen geschuldet, dass es zu einem „Eremitendasein“ mitten in unseren gut bevölkerten Gegenden kommt. Gerade in den Städten mit der vorhandenen Anonymisierung des Einzelnen ist es Fluch und Segen zugleich, allein zu leben. Man wird, ob man will oder nicht, in Ruhe gelassen. Früher mussten Menschen sich aus dem sozialen Umfeld, das strengen Regeln unterworfen war, absichtsvoll und gewollt entfernen, zum Eremiten werden, wenn sie alleine sein wollten, ein anderes als vorgegebenes Leben gestalten wollten, bzw. wenn sie die selbst gewählte Einsamkeit suchten. Heute sind „Eremiten“ mitten unter uns, und manchmal nicht aus eigener Absicht.

Allein sein heißt nicht unbedingt einsam sein. Einsamkeit entsteht dann, wenn zu wenig Sinn- oder Verbindungstiftende Kontakte zu Mitmenschen vorhanden sind. Wenn also die ältere Generation täglich einen Besuch des Pflegepersonals zu Hause bekommt, muss dies nicht gleichzeitig sinnstiftend sein. Wenn keine Gespräche mehr geführt werden, die für die ganze Person, für ihre Persönlichkeit, mit positivem Erleben verbunden wird (Freude, Entspannung, Zugehörigkeitsgefühl, Wertschätzung, Interesse), wird auch ein häufig stattfindender pflegerischer Kontakt nicht als erfüllend und sinnstiftend empfunden und es entsteht Einsamkeit. In einer Partnerschaft ist man oft nicht allein, jedoch möglicherweise einsam, wenn keine gemeinsamen Grundlagen, Hobbies, Interessen, Gesprächsthemen mehr vorhanden sind.  Für Kinder und Jugendliche, die vor allem untereinander  in Peergroups wichtige soziale Einbettung erfahren, wo also der Freundeskreis manchmal Familienersatz sein kann, war und ist das Verbot von gemeinsamen Treffen und Aktivitäten während des Lockdowns schwer auszuhalten gewesen. Denn die eigenen Eltern sind nicht unbedingt immer allein die richtigen Gesprächspartner und sinnstiftenden Mitmenschen. Die Kinder und Jugendlichen trotz hoher Gefährdung in die Schule gehen zu lassen, war für die Vermeidung von Entwicklungsverzögerungen, bis hin zu -Schäden wichtig, obwohl ethisch gesehen (Ansteckungsgefahr, Gefahr von schweren Krankheitsverläufen) nicht einfach.

Aus der sozialpsychologischen und soziologischen Forschung, sowie aus sozialen Experimenten (z.B. der Biosphäre 1 und 2-Forschung) bzw. historischen Gegebenheiten (z.B. die verwahrlosten Kinder aus Kinderheimen in Rumänien) konnten psychologische Effekte bei isolierten Menschen nachgewiesen werden. Kleinkinder, die ein Defizit an Zuwendung sowie aufgrund mangelnden Sozialkontakts kaum Stimulation und Lernerfahrungen haben konnten, entwickelten sich deutlich verzögert. Unter anderem wurde nachgewiesen, dass das Gehirn deutlich kleiner ausfiel als bei Kindern, die sich unter normalen Umständen entsprechend entwickeln konnten. Erwachsene Menschen, die lange Zeit allein, ohne Kontakt nach außen sind, entwickeln Eigenheiten, die manchmal im Kontakt mit Anderen oder in Verhaltensweisen „eigen“-artig wirken. Umgekehrt wurde in Experimenten mit Gruppen, die von der Außenwelt isoliert wurden, festgestellt, dass nach einer Weile die Gruppenkohärenz, das Zusammenspiel und Miteinander-Agieren sich aufzulösen begann und teilweise ungünstige bis problematische Verhaltensweisen untereinander entstanden. Auch aktuell wurde in der Lockdown-Zeit wieder deutlich, dass eine Isolation einer Familie auf engem Raum die Gefahr von Grenzüberschreitungen und Gewalt erhöhte. Vor allem die schwächeren Mitglieder (Frauen/Kinder) sind dieser ungünstigen Entwicklung ausgesetzt.

Wenn die oben dargestellten Beobachtungen zusammengefasst werden, scheinen sich Widersprüche zu ergeben. Alleinsein als Notwendigkeit zur Entspannung, jedoch mitten in der vollbevölkerten Stadt einsam zu sein. Im Gegensatz dazu tun zuviele Menschen auf kleinem Raum einander nicht nur gut. Nur Gleichaltrige wie die Kleinkinder in Rumänien sind nicht gut für einander, aber nur mit den eigenen Eltern ohne Gleichaltrige fehlt es auch an etwas. Zu zweit einsam sein, aber dabei nicht allein sein.

Warum also braucht der Mensch soziale Kontakte? Welche und wie viel davon?

Generell ist der Mensch ein soziales Wesen und biologisch gesehen ein „Nesthocker“. Das heißt, bei Geburt sind wir Menschen noch nicht fertig für das Leben „draußen“ ausgebildet und entwickelt. Das Säuglingsalter ist die wichtigste Zeit für die Entwicklung eines Grundvertrauens in das Leben, in dem die Gewissheit erlernt wird, dass die grundlegendsten Bedürfnisse zum Überleben (Nahrung, Sicherheit, förderliche Lernumgebung) erfüllt werden. Damit wird der Boden für die eigene zukünftige Selbstregulationsfähigkeit und Entwicklung gelegt. Der Kontakt zu Bezugspersonen (Mutter/Vater, andere Bezugspersonen) sind daher lebensnotwendig, ohne diesen würde ein Säugling nicht überleben. Dieses Bedürfnis nach Zuwendung bleibt lebenslang bestehen, in individuellem Maß, je nach Lebenserfahrung und Selbst-Sicherheit/-Vertrauen, die ein Mensch hat aufbauen können.

Im Kindesalter ist Lernen in jeglicher Hinsicht ein sozialer Akt. Kinder schauen ab, wie sich größere Geschwister verhalten, wie die Eltern mit bestimmten Situationen umgehen, wie sich andere Menschen ihres Alters verhalten. Sie lernen ihre Bedürfnisse zu äußern, Frustrationen zu überwinden, Schwierigkeiten zu meistern, sie lernen Natur und Menschgemachtes kennen, das eigene Ich von der Umgebung, von anderen Menschen abzugrenzen, usw.

kinder umarmen sich herbst

Unter all diesen Lernerfahrungen wird es auch mit sozialen Normen, Werten, gesellschaftlichen Tabus und Erlaubnissen, Gesetzen und Verpflichtungen, Rechten und Verboten konfrontiert, die das soziale Miteinander der Menschen reguliert. Ohne den täglichen Austausch mit anderen Menschen, und da vor allem nicht nur mit den Gleichaltrigen, würde ein Mensch sich in der Komplexität des Miteinanders nicht zurechtfinden können. Ein Hineinwachsen in eine soziale/kulturelle Einbettung (Integration) geschieht nur durch die Auseinandersetzung im sozialen Rahmen. Als Gegenbeispiel: Als Erwachsener in eine fremde Kultur zu kommen, kann mit vielen Schwierigkeiten verbunden sein, da man nicht mit den teils ungeschriebenen kulturellen Normen und Werten vertraut ist. Manche Migranten fühlen sich auch nach Jahren nicht gänzlich in einer neuen Kultur integriert.

Nach der Schulzeit und zu Beginn des Erwachsenenalters ist vor allem die eigene Identitätsbildung durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Subkulturen, Gruppierungen, Freundeskreisen geprägt, in denen wir uns wohlfühlen, unsere Bedürfnisse nach Anerkennung, Wertschätzung, Verstanden werden gestillt werden und wir unser Verbundensein mit Ähnlich-Denkenden leben können. Dies fördert die eigene soziale Identität und kann sich nur durch Eingehen auf und Aufrechterhaltung von sozialen Kontakten entwickeln.

In jedem Lebensalter sind bestimmte Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, wozu wir Menschen über Gleichgesinnte Informationen, Hilfestellungen, Vorbilder und Negativbilder zusammen suchen. Z.B. finden sich oft Eltern hauptsächlich mit weiteren Eltern zusammen, um die Lebensaufgabe der Elternschaft gemeinsam im Austausch der Schwierigkeiten, der schönen Erlebnisse und der notwendigen Informationen zu gestalten. Auch wenn in der Familienphase oft die früheren Kontakte reduziert werden, bleibt es wichtig, sich in den entsprechenden Phasen mit Gleichgesinnten verbunden zu fühlen, zumindest für eine stressfreiere Bewältigung dieser Entwicklungsaufgabe.

Aufgrund der heutigen Vereinzelungstendenz, bei Verlust der Einbettung in einen größeren Familienkontext oder auch aufgrund der beruflichen Mobilität und damit verbundener Standortwechsel, geschieht es derzeit jedoch häufiger, dass der Anschluss an neue Kontakte schwierig verläuft. Am Arbeitsplatz lassen sich oft persönliche Kontakte nicht pflegen und wer sich dann erschöpft nach der Arbeit zu Hause erholen möchte, kommt manchmal nicht mehr in einen sozialen Kontakt z.B. durch Sportvereine oder familiären erweiterten Kontakten. Dass sich Nachbarschaften zusammensetzen und gemeinsame Zeit verbringen, hat sich über die letzten 50 Jahre deutlich reduziert.

Für unsere psychisches Wohlbefinden ist es jedoch äußerst wichtig, im Kontakt mit Mitmenschen auf einer wohlwollenden, positiven, unterstützenden, zugewandten und interessierten Ebene zu sein, um zu vermeiden, dass durch Einsamkeits- und Isolationsgefühle Ängste oder Depressionen entstehen. Wir brauchen einander. Wie es im Integrativen Therapieverfahren als eine der Grundlagen für das Verstehen menschlichen Verhaltens und Fühlens vertreten wird, ist Mensch immer MIT-Mensch, in Koexistenz, im Konvoi mit Anderen unterwegs, in einem bestimmten Kontext und Kontinuum (Zeitspanne), was salutogen (gesundheitsförderlich), aber manchmal auch pathogen (krankheitsförderlich) auf diesen Menschen wirken kann.

Daher: lasst uns in ein (salutogenes) Miteinander kommen, wir brauchen einander!

Autor: Miriam Qammou-Engel, Dipl. Psychologin
Thema: Warum braucht der Mensch soziale Kontakte?
Webseite: https://www.psychologische-praxis-scheidegg.com

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