Berufung – ein etwas nebulöses Wort. Es haftet ihm einerseits eine gewisse Poesie und Romantik an, aber genauso gut eine schwammige Unklarheit.
Was wir jetzt schon ahnen können: Berufung hat zwar etwas mit einem Beruf zu tun, geht aber doch weit darüber hinaus.
Wikipedia kann uns für ein erstes Verständnis weiterhelfen: „Unter Berufung wird das Vernehmen einer inneren Stimme verstanden, die dazu drängt, sich einer bestimmten Aufgabe zuzuwenden, vielleicht sogar das Leben lang.“ Etymologisch geht das Wort Beruf auf „berufen“ zurück. Die Ständelehre des Mittelalters kannte hier die „vocatio interna“ und die „vocatio externa“, also den „inneren Beruf“ und dem „äußeren Beruf“. Die innere Berufung ist das eingenommene geistliche Amt, die äußere Berufung betraf die weltlichen Berufsstände. Im Rahmen der späteren Säkularisierung verschwanden allerdings die religiösen Bestandteile, und seit dem Übergang in das 19. Jahrhundert erhält der Begriff Beruf die Definition einer Tätigkeit, wie wir sie heute kennen: Beruf ist etwas, das fachliche Qualifikationen voraussetzt und in der Regel mit einem Erwerbseinkommen verbundenen ist.
So weit, so gut. Aber Berufung – das ist mehr als ein erlernter Job, den ich gegen Geld ausübe. Berufung – da steckt eine Leidenschaft, Spaß, ein Brennen dahinter, da ist jemand für oder zu etwas berufen worden. So wie bei jenen Menschen, die ihr Hobby zum Beruf gemacht haben. Diese Glückspilze konnten das, was sie gerne und entsprechend auch sehr gut machen, in eine berufliche Aktivität umwandeln, von der sie leben können. Da ist die Webseiten-Gestalterin, die ihre gut honorierten Aufträge mittlerweile als Selbständige durchführt. Der Hobbyimker, der mittlerweile einen kleinen erfolgreichen Onlinehandel mit seinem Honig aus eigener Imkerei betreibt. Oder die Hundenärrin, die mittlerweile erfolgreich als Hundetrainerin tätig ist und deren Kalender auf Monate im Voraus ausgebucht ist.
Der Blick auf diese Glückspilze ist meist ein neidvoller, nehmen wir doch an, dass diese nie wieder im klassischen Sinne arbeiten müssen – nämlich nicht mehr so, wie wir Arbeit oft verstehen oder leben. Ein Job: Das ist die Tätigkeit, die ich von Montag bis Freitag gegen Geld ausführe und die zwar durchaus auch mal Spaß machen kann, die aber sehr, sehr selten von Leidenschaft, Selbstbestimmung oder Sinnhaftigkeit gekennzeichnet ist. Der Job ist in erster Linie ein Vernunftsjob. Ich mache etwas, meist auch mit gutem Output – aber nicht zwangsläufig gerne. It pays my rent.
Wochenenden, Urlaube, der Blick auf den eigenen Renteneintritt haben damit einen großen Reiz. Jedem Zeitfenster, das nur mir gehört, fiebere ich entgegen. Ich kann nun genau jene Dinge tun, die mich wirklich erfüllen und die ich gerne tue, frei von jeglichen Zwängen. Ich gärtnere, ich lese Autobiografien, widme mich meiner Familie, fahre Rad, baue Stahlskulpturen, gehe wandern, schnitze Adventsfiguren, lege Puzzles, schlafe lang, backe Kuchen, male Aquarelle, töpfere Teekannen…. Die Kette lässt sich nahezu endlos erweitern. Und genau darum hat wohl auch mal ein Mensch die gute Vereinbarkeit zwischen Privat- und Arbeitsleben als work-life-balance bezeichnet: Wenn ich arbeite, lebe ich nicht wirklich. Ich lebe auch nicht auf, im Gegenteil: Ich arbeite durch und erhalte dafür ein Schmerzensgeld. Bis zum Freitag. Dann erst fängt das Stück Leben an, das diesen Namen wirklich verdient.
All das ist kein Einzelschicksal. Bei einer repräsentativen Befragung der Manpower Group mit dem Titel „Jobzufriedenheit 2019“, die 1.004 Bundesbürger*innen zur persönlichen Arbeitssituation befragte, gab zwar jede*r Zweite an, mit den Arbeitsbedingungen zufrieden zu sein. Doch das heißt auch, dass es jede*r Zweite nicht ist. Und so würde auch jede*r Zweite den Job wechseln, weist also eine hohe Wechselbereitschaft auf.
Richtig schlimm wird es dann, wenn ich samstags schon das Ende des Wochenendes fürchte und mir ganz konkret am Sonntagabend schon davor graut, am nächsten Morgen wieder zur Arbeit zu müssen. Und auch hier hat die Manpower Group erschreckende Zahlen für uns: Bei knapp jeder/m dritten Befragten führt der Arbeitsalltag dazu, dass sie/ er sich häufig erschöpft und müde fühlt.
Wenn die Wechselbereitschaft hoch ist, das gesundheitliche Wohlbefinden hingegen schrumpft, ist es allerhöchste Zeit, ernsthaft einige Reflektionen anzustellen: Stepstone empfiehlt, die Antworten auf folgende acht Fragen als Indikatoren für eine Bilanz zu nehmen:
- Können Sie sich im Job beweisen?
- Erhalten Sie die nötige Anerkennung bei Erfolgen?
- Fordert Sie Ihr Job?
- Ist Ihr Job abwechslungsreich?
- Ist Ihr Job gut für die Gesundheit?
- Können Sie mit dem auftretenden Stress und Ärger umgehen?
- Lässt sich Ihr Job mit Ihren Lebensumständen vereinbaren?
- Motiviert Sie Ihr/e Vorgesetzte*r?
Der einfache Tipp: Je mehr Fragen Sie mit nein beantworten, desto eher sollten Sie sich nach beruflichen Alternativen umsehen. Wenn das eigene Sicherheitsgefühl oder gar die eigene Komfortzone es verhindern, Jobalternativen wirklich ernsthaft in Betracht zu ziehen und sich aktiv dafür einzusetzen – auch okay. Akzeptieren Sie dies an sich, aber lassen sie dann auch das Jammern. Machen Sie Frieden mit sich und Ihrem inneren Schweinehund; vielleicht ist die Lösung des Bleibens die quasi ‚richtigste‘ für Sie, weil sie die Unsicherheit nicht ertragen oder die Energie dafür nicht aufbringen möchten. Okay. Wenn es aber nicht okay ist: Ärmel hochkrempeln und neu denken, erste Schritte für einen Neuanfang in die Wege leiten, Unterstützung von Familie und Freund*innen suchen, ins Tun gehen – das ist bekanntlich krasser als das Wollen…
Wenn wir nochmals zu den aus Hobbies erwachsenen Berufen zurückkehren, müssen wir zudem den Mythos hinter diesen abwaschen, also den oberflächlichen Glanz derselben abspülen und auch mal hinter die Kulissen gucken. Denn hinter der Fassade wird hier natürlich ebenso mit finanziellen oder strukturellen Abhängigkeiten, mit Erfolgszwang oder Termindruck gekämpft, vielleicht sogar nochmals stärker, wenn man sich – wie aktuell so viele - als Selbständige*r in Coronazeiten behaupten und seine Lebensgrundlage aufrechterhalten muss. Das dämpft den Glücksflow natürlich erheblich.
Jenseits einer möglichen Romantisierung fesselt uns dennoch alle mehr oder weniger und immer mal wieder die Vorstellung, etwas beruflich tun zu dürfen, was uns wirklich erfüllt und dass sich dadurch nicht wie Arbeiten anfühlt. Wie Konfuzius empfahl: Wähle einen Beruf, den du liebst, und du musst nie mehr in deinem Leben arbeiten. Ein Herzjob eben, der mich erfüllt und gleichzeitig meine monatliche Überweisung an den Vermieter sichert.
Wie aber finde ich meinen Lieblingsjob, wie finde ich zu meiner ganz eigenen Leidenschaft? Hier ein Tipp: z.B. auf der Website mindhack.de. Ronja, die Autorin und Bloggerin, schreibt zu diesem Thema: „Dieses ganze Gerede um Leidenschaft hatte in mir die Illusion erweckt, dass ich nur intensiv genug suchen müsste, dann würde es knallen und vor mir würde sich strahlend meine Leidenschaft offenbaren. Die Kurzfassung: Es ist nicht passiert.“
Aber damit hat Ronja sich nicht begnügt – sie hat weiter gegraben und einen klugen Fragekatalog entworfen, mit dem wir einen Werkzeugkoffer zur Erkundung unserer Leidenschaften an die Hand bekommen.
Die Schlüsselfragen, die ich für den Anfang gut geeignet finde, sind:
- Was würdest du gerne jeden Tag machen?
- Über welches Thema liest du gerne?
- Welche Idee würdest du gerne umsetzen?
- Worüber kannst du einen Ratgeber schreiben?
- Was lässt dich die Zeit vergessen?
- Wen bewunderst du? Was tut sie oder er genau - und was fasziniert dich daran?
- Welche Arbeit fällt dir besonders leicht?
Quelle: https://mind-hack.de/wp-content/uploads/2016/02/Finde-deine-Leidenschaft-mit-diesen-Fragen.jpg
Auf der Suche nach meinen Talenten und Leidenschaften bieten diese key questions gute erste Spatenstiche auf der Suche nach dem eigenen inneren Gold. Und nach neuen beruflichen Konzepten. Wir müssen schließlich nicht alles zu unserem Hauptjob machen - insbesondere dann nicht, wenn es sich finanziell nicht als alleinige Spielwiese rechnet. Aber wir können unsere Leidenschaften ins Erwerbsleben integrieren. So kenne ich einen Arbeitsvermittler, der nur in Teilzeit tätig ist, um nebenbei an archäologischen Projekten teilnehmen zu können. Und eine Hochschulmitarbeiterin, die als zweites Standbein tatsächlich neue Brettspiele entwickelt und auf Spielemessen vertreibt.
Dieses Standbein-Spielbein-Konzept hat den Vorteil, nicht gänzlichst über den Schatten des materiellen Sicherheitsbedürfnisses springen und sich von diesem komplett befreien zu müssen. Es ist erlaubt, sich Nebenprojekten zu widmen. Ob diese lukrativ sind oder nicht, spielt dann eine unterordnete Rolle. Wir müssen nicht alles „versilbern“, es gibt schließlich so etwas wie geldwerte Vorteile. Und damit meine ich nicht den Firmenwagen, sondern gewonnene Lebensqualität. Also Gesundheit. Qualitätszeit. Zufriedenheit. Erfüllung. Flow. Glück. Balance. Sinn. Wir werfen diese Werte allzu selten ins Spiel, wenn wir unseren Kontoauszug angucken. Aber nur, weil die Währung hier eine andere, eine psychologische ist, ist ihr Gegenwert auf unserem Lebenskonto nicht wegzureden.
Erinnern Sie noch an das Buch: „The top five regrets of dying“? Die Hospizkrankenschwester Bronnie Ware hat die psychologischen Bilanzen von Sterbenden in Worte gefasst. Und tatsächlich gab es niemanden, auf dessen Grabstein stehen sollte: „Ich wünschte, ich hätte noch mehr gearbeitet!“. Stattdessen gab es Wehklagen über verwehte Glückschancen, über verpasste Zeit mit Familie und Freunden und über ein Vielzuviel an Arbeit.
Am Ende noch ein kurzer Ausblick für jene Menschen, die ein ganzes Bündel an Leidenschaften in sich tragen und denen es deshalb so schwerfällt, sich beruflich zu fokussieren. Mittlerweile hat sich hier eine Buchsparte an Ratgebern für diese Personengruppe aufgetan, die aktuell als Scanner-Persönlichkeiten durch die Presse wandern. Scanner – damit sind multibegabte und poly-interessierte Menschen gemeint, die sich für viele verschiedene, oft gar nicht zusammenhängende Bereiche interessieren und denen es deswegen schwerfällt, an einer Sache, einem Projekt dranzubleiben. Das sind Multiprofessionals, Multitalente, bunte Zebras oder Ideenhelden, wie sie auch tituliert werden.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß und Erfolg auf dem Weg zu Ihren ganz persönlichen beruflichen Goldnuggets.
Autor: Astrid Kickum, Coach und systemische Beraterin
Thema: Wie kann ich meine Berufung finden?
Webseite: https://www.gluecksteinpraxis.de