Es gibt die Theorie, dass es unter den jungen Menschen weniger Raucher gibt, weil sie für die Zigarette keine Finger frei haben.
Denn sie alle halten ja schon das Handy, nach welchem sie süchtig sind, in der Hand. Und tatsächlich sehen wir überall, ganz gleich, ob auf der Straße, im Zug oder Flugzeug, einfach überall, da wo Menschen sind, fast jeder trägt ein Handy in der Hand. Nach dem Pfadfinder-Motto: Allzeit bereit! Und sollte man gerade selbst keine Nachricht bekommen, dann ist man der Follower eines anderen, also von jemandem mit einer tollen Story, unglaublichen Bildern und unfassbaren Erlebnissen. Und so wie wir dann anderen im Internet folgen, möchten auch wir Anhänger haben. Da passiert es dann schon mal, dass wir unruhig werden, wenn einige Zeit keine Meldungen kommen. Dann wird schnell etwas gepostet, um wieder etwas in Gang zu setzen. Und je schneller und mehr zurückkommt, um so belohnter fühlen wir uns. Ja, damit füllen wir unser Belohnungssystem auf und das macht uns glücklich! Das provoziert uns ja gerade dazu, auf möglichst vielen Ebenen vertreten zu sein. Denn umso größer sind die Chancen gesehen und ‚geliked‘ zu werden. Nichts scheint schlimmer zu sein als die Erfahrung: Niemand interessiert sich für mich.
Dabei stellt sich doch die Frage: Womit kann ich mich bei anderen interessant machen? Welche Fotos und welche Stories von mir sind so spektakulär, dass sie sich in das Gedächtnis der anderen einbrennen und ich somit – unwiderstehlich – für andere bin. Dieses Bedürfnis führt natürlich auch immer wieder zu gewissen Stilblüten, heißt Ausrutscher in Form von geposteten Selfies, die die Welt besser nicht gesehen hätte oder Mobbing-Attacken als Machtorgie gegenüber ausgewählten Opfern. Alles für den Beifall!? Nach dem Motto: Wenn ich schon nicht mit positiven Dingen auffallen kann, dann ...
Unser im Hirn angelegtes Belohnungszentrum scheint also auf alles zu reagieren was wir ihm bieten. Wenn hier auch der innere Schweine-Hund angesiedelt ist, dann wird schnell klar, dass er ein Allesfresser ist, der bei jedem Leckerli mit dem Schwanz wedelt. Doch auch wenn unser Handy ständig vibriert, heißt das denn nun auch, dass sich ganz viele Menschen wirklich für uns interessieren? Oder wollen jene einfach nur die freudige Erwartung anstupsen, gleich eine Rückmeldung zu bekommen, und somit das Gefühl, interessant zu sein?
‚Bing‘ ... “Wo bist Du?“ – „Was machst Du gerade?“ – „Wie geht es Dir?“ und dazwischen unzählige Bilder, Witze, Filmchen und Sprachnachrichten. Die Antwort kommt prompt: „Chille gerade auf dem Sofa und netflixe“, dazu ein Selfie, plus Bild von dem Film, der gerade läuft, und dazu ein Schnappschuss von der schlafenden Katze. Wow!!! In Windeseile gibt es eine Flut von Informationen, die sich richtig wohlig anfühlen! „Hurra, ich bin ja so wichtig!“
Zu meinem Job gehört, dass ich Paare und Einzelpersonen coache bzw. therapiere. Kürzlich war ein junger Mann bei uns in der Praxis, der mir über zwei Stunden seine Probleme mit seiner schwangeren Freundin schilderte und mich, in aller emotionalen Breite, in seine desolate und verängstigte Gefühlslage einband. Auch in den folgenden Tagen kamen immer wieder Hilferufe per WhatsApp, auf die ich ihm bereitwillig Tipps und Ratschläge gab. In Sorge um die beiden jungen Menschen fragte ich vor einigen Tagen freundlich nach. Weil mir seine Reaktion etwas seltsam erschien, wurde ich hellhörig und hakte kritisch nach. Schließlich bekam ich die Antwort, dass es weder die Freundin noch eine Schwangerschaft gibt. Er wollte einfach nur meine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Im ersten Moment war ich wütend! Natürlich auf den jungen Mann und seine Stories und im nächsten Schritt auf mich selbst. Wie konnte ich nur so doof sein und ihm das alles glauben? Aber dann hat mich das auch nachdenklich gemacht. Wie weit muss jemand sein, wenn er sogar Geld dafür ausgibt, mir eine erlogene Not zu erzählen, um damit interessant zu sein?
Wie hätte denn wohl die eigentliche Geschichte klingen müssen? „Ich führe ein langweiliges Leben, sitze alleine in meiner Bude und habe keine Ahnung, wie ich an eine Freundin kommen soll.“ Es gibt vermutlich nicht sooo viele Menschen, die bei diesem Text zwei Stunden ihrer Lebenszeit geopfert hätten, um sich in aller Tiefe diesem Thema zu widmen. Denn schließlich ist das weder außergewöhnlich noch unlösbar. Das Problem wäre mit einem kurzen Satz erledigt: “Alter, dann geh raus und mach was!“
Dagegen bekommen wir aber ganz schnell die Aufmerksamkeit, wenn wir davon erzählen, wie wir ein Problem gelöst haben. Menschen sind darauf aus, vom Schicksal der anderen zu lernen, um das für sich selbst zunutze zu machen. Wir sagen „gaffen geht gar nicht“. Doch wir machen den ganzen Tag nichts anderes. Wir sammeln Informationen: “Was ist denn da los?“ Um Gefahr rechtzeitig zu erkennen und vielleicht aus dem Lebenswandel unserer Mitmenschen für uns selbst Schlüsse zu ziehen. Und vielleicht geraten wir selbst dabei manchmal in den Fokus. Aber machen wir uns nichts vor. Wirkliches Interesse sieht oft anders aus.
Wir leben zwar in einer Gesellschaft, die mit ihrem Herdenverhalten untereinander verbunden ist. Dennoch ist jeder im Überlebenskampf auf sich selbst gestellt. Natürlich gibt es immer wieder Personen, die sich für Dich oder mich interessieren. Aber selbst das aufrichtigste Interesse hat seine Grenzen. Selbst wenn ich Dir meine tiefsten Sorgen schildere, sind es immer noch meine. Auch wenn ich Dir meine schönsten Glücksmomente schildere, wird Dein Leben nicht automatisch leichter. Es ist also eine Illusion zu denken, dass sich andere für mich interessieren müssten, damit ich mich nicht mehr einsam fühle. Denn die Realität ist, dass wir offensichtlich schon eine ganze Weile aus dem Mutterleib raus sind, die Nabelschnur gekappt ist und wir selbständig atmen und essen müssen. Wir sind entkoppelt. Und dieser Zustand fühlt sich für uns dann manchmal kalt und einsam an. Viele von uns sehnen sich zurück, in dieses enge, verbundene und geborgene Leben. Doch es gibt absolut keinen Weg zurück. Und viele scheitern bei dem Versuch, sich einen ähnlich geschützten Raum, künstlich zu erzeugen. Stellt sich mir die Frage: Wäre es dann nicht wesentlich klüger, den tatsächlichen Lebensumstand als gegeben zu akzeptieren und alle damit verbundenen Begleiterscheinungen nicht nur zu erkennen, sondern auch aktiv damit umzugehen und zu gestalten?
Heißt: Ich interessiere mich für mich und erwarte es nicht ständig von anderen! Ich beginne damit, meine Probleme und Sorgen, meine Launen und die Angst vor der Einsamkeit nicht nur permanent zu überspielen, abzulenken oder abzuwälzen, oder gar anderen dafür unbedacht die Verantwortung zu übergeben, sondern sie selbst beherzt anzugehen. Und ich werde nicht alle Gefühle, Entscheidungen und Handlungen von meinem Umfeld abhängig machen. Denn ich bin für mich selbst verantwortlich.
Denn auch für uns selbst sind genau diese Menschen interessant. Also Persönlichkeiten, die ihre Lebensenergie nicht aus dem unablässigen Beifall und der Aufmerksamkeit ziehen, sondern selbst für sich sorgen können und dadurch auch in Niederlagen, – also wenn der Applaus ganz sicher ausbleibt –, sich selbst Halt geben können.
Vor einigen Tagen erhielt ich eine Kurznachricht von einem früheren Freund: “Hallo, wie geht es Dir?“ Ich freute mich riesig über sein Interesse und nahm mir auch Zeit, ihm eine ausführliche Nachricht zu schicken: „Hey, schön, dass Du Dich meldest! Ja, es geht mir gerade nicht so gut, meine Tante liegt im Sterben und ich mache mir große Sorgen, weil sie so weit weg im Altersheim ist und ich sie nicht besuchen kann. Ansonsten muss ich gerade sehr viel arbeiten und weiß daher manchmal nicht, wo mir der Kopf steht. Aber jetzt mal zu Dir: Wie geht es Dir denn so?“ Auf die Antwort warte ich heute noch, aber das ist ok. Vermutlich hat er gerade andere Sorgen und war von meiner Gefühlslage etwas überfordert. Schließlich hätte hier ein Katzenbild wenig geholfen.
Machen wir uns also nichts vor. Jeder will interessant sein und jeder hat das Bedürfnis, dass sich andere für einen interessieren. Und dabei greifen wir auch schon mal in die Trickkiste, indem wir entweder unsere Internetpräsenz erhöhen, indem wir mit ‚gefakten‘ Bildern oder Botschaften arbeiten oder der oft unbegründeten Annahme verfallen, dass sich andere freiwillig gerne und zu jeder Zeit unserer Sorgen und Nöte interessiert annehmen. Natürlich gibt es Ausnahmen. Aber ganz ehrlich: Den Meisten geht es im Grunde doch oft nur um das beruhigende Gefühl, das entsteht, wenn es wieder ‚Bing‘ macht.
Niemand interessiert sich für mich? Na, dann sollte ich anfangen, mich für mich selbst zu interessieren. Wir reden oft von Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl und orientieren uns dabei dann auch schon mal an der Anzahl unserer Follower. Also je höher die Zahlen umso aufrechter der Gang und nun mag ich mich. Ich kenne einige Menschen, die ein Leben in der Öffentlichkeit – also auf der Bühne – führen. Dort strahlen sie selbstbewusst, wirken un-kaputtbar, sind witzig und haben immer einen flotten Spruch drauf. Doch wenn ich genau dieselben Menschen privat erlebe, dann treffe ich eher einen schüchternen und oft an sich selbst zweifelnden Zeitgenossen.
Mir meiner selbst bewusst zu sein ist also nicht ein Zustand, der mir von außen eingehaucht werden kann, sondern ein Wissen, das ich in mir selbst trage und entsprechend ausstrahle. Wenn ich für mich selbst herausgefunden habe, was ich will oder ablehne, und wenn ich weiß, was ich kann und wo meine Grenzen sind, dann bin ich da schon auf einem guten Weg. Dazu kommen noch die Erkenntnisse über meine familiären Wurzeln und der damit verbundene rote Faden, der sich auch in meinem Leben widerspiegelt. Und dann sollten wir nicht vergessen, dass unsere Sehnsüchte und Ängste eine große Rolle spielen; denn das sind die Kräfte, die uns antreiben oder ausbremsen.
Je mehr ich mir also über mich selbst im Klaren bin, auch mit allen Ecken und Kanten, kann ich nun vor den Spiegel treten. Darf ich Dich auch dazu einladen? Vielleicht siehst Du etwas, was Du gerne ändern möchtest und eventuell sogar könntest: z.B. eine neue Frisur oder ein wenig ab oder zunehmen. Aber ansonsten ist das die Verpackung, die Du für Dein Inneres bekommen hast. So, und nun kommt die wichtigste Frage: Magst Du Dich? Also das Gesamtkunstwerk aus all den Dingen, die Du über Dich selbst herausgefunden hast und dem Menschen, der Dich aus dem Spiegel anschaut? Bist Du interessiert an Dir und neugierig auf das, was Du noch so alles erleben und erschaffen wirst? Wenn ja, dann sei nun Dein eigener treuer Begleiter auf Deiner Abenteuerreise durchs Leben. Niemand interessiert sich für Dich? Das Thema ist ab heute Geschichte.
Kürzlich sah ich ein Interview mit einem 6-jährigen Straßenjungen in Brasilien. Er meinte unter anderem: „Ich möchte wissen, warum ich lebe und was ich auf diesem Planten tun kann!“
Autor: Gisela Ruffer, Herbert Ruffer
Thema: Niemand interessiert sich für mich
Webseite: https://www.praxis-ruffer.de