Wer bin ich wirklich?

Eine der klassischen Fragen rund um das Thema Identität lautet: 

Wer bin ich, woher komme ich und wohin will ich in und mit dieser Gesellschaft?

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Je sicherer wir uns unserer selbst sind, desto eher können wir diese Fragen beantworten. Meiner Meinung nach sind derzeit extrem viele Menschen auf der Suche nach sich selbst, also auf der Suche nach ihrer Identität. Da fällt mir der Buchtitel von Richard David Precht ein: Wer bin ich und wenn ja wie viele?

Viele Menschen sind also auf der Suche nach der Person, die sie wirklich sind. Durch die Komplexität der Welt ist diese Suche zwar individueller, aber auch wesentlich komplizierter geworden. Früher waren Lebenswege klar vorgegeben, heute gibt es eine Vielfalt an Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Hier ist der Mensch gefragt, sich mit seinem Wesen und seinen Rollen auseinanderzusetzen. Dabei kann Biografiearbeit sehr hilfreich sein. 

Biografiearbeit eröffnet Möglichkeiten, das eigene Leben zu reflektieren und sich darüber mit anderen Menschen auszutauschen. Kurse und Bücher bieten eine Vielzahl an Methoden, einen wertschätzenden Blick auf das Leben zu werfen, um damit Chancen für die Gegenwart zu sehen und zu nützen und in weiterer Folge erreichbare Pläne für die Zukunft zu schmieden. 

Besonders hilfreich ist Biografiearbeit bei Lebensumbrüchen, Abbrüchen und anderen Übergängen. Sie ist ressourcenorientiert und dient der Frage nach dem Sinn und den Werten. Außerdem ist sie für jedes Lebensalter geeignet. 

Nun aber zum Begriff Identität:

Meine Identität, sich mit einer Gruppe oder einer Sache identifizieren, jemanden identifizieren, all das sind Worte, die wir im Alltag oftmals verwenden. Aber was ist nun eigentlich Identität? Das Gleiche wie Persönlichkeit? Oder doch etwas ganz Anderes? 

Der Ausdruck Identität kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „derselbe“. Kinder definieren sich als Teil ihrer Eltern und überprüfen auf ihrem Weg der Entwicklung immer wieder, ob sie ihren Eltern ähnlich sind. Auch hier kann die Beschäftigung mit der eigenen Biografie zu einer besseren Klarheit der eigenen Identität führen. Dabei unterstützt ein sogenanntes Lebensbuch, in dem all die persönlichen Daten festgehalten werden und zusätzlich Geschichten rund um das eigene Leben von den Umständen der Geburt, über Erlebnisse im Kindergarten, die Einschulung und die weitere Entwicklung. Die Biografie ist lt. Hubert Klingenberger „das Fleisch auf dem Gerippe“, d.h. Sie können sich das so vorstellen, dass der übliche Lebenslauf Zahlen, Daten und Fakten aufweist. Die Biografie hingegen erzählt etwas über die  eigenen Erlebnisse rund um diese Jahreszahlen. Wie fühlte ich mich z.B. bei der Einschulung oder wie erging es mir am Tage meines Abiturs oder Lehrabschlusses?

Hier noch zwei offizielle Definitionen der Begriffe Identität und Persönlichkeit:

  • Identität kennzeichnet die Definition eines Menschen als einmalig und unverwechselbar, sowohl in der eigenen Anschauung als auch durch die soziale Umwelt. Identität stellt für das Individuum das Erleben der Einheit des Selbst dar. Die Identitätsbildung kann dabei als Selbstorganisation beschrieben werden.” (nach Oerter 2002)

  • Persönlichkeit ist die individuelle Neigung auf konsistente Art zu handeln, zu denken und zu fühlen. Sie beruht auf einem einzigartigen Muster von Temperament, Emotionen und intellektuellen Fähigkeiten, das ein Kind in sozialen Interaktionen mit seiner Familie und gesellschaftlichen Gruppen erwirbt.“ (nach Caspi 1998)

Die verschiedenen Persönlichkeitstypen und Charaktere, die Menschen im Fühlen, Denken und Handeln unterscheiden, sind in jedem Menschen vorhanden. Zusätzlich dazu gibt es das Gefühl der Identität, also das Bild, das ein Mensch von sich selbst hat. 

Der Mensch besitzt vererbte Fähigkeiten und Charaktereigenschaften, aber auch Potenziale, die ihn zu einer einzigartigen Persönlichkeit machen. 

Viele Wissenschaftszweige beschäftigen sich mit dem Thema in unterschiedlichsten Herangehensweisen. Sicher ist inzwischen, dass es sich bei der Persönlichkeit eines Menschen um eine Kombination aus den genetischen Anlagen und durch das soziale Umfeld geprägte Verhaltensweisen handelt, d.h. diese sind umweltbedingt. Auch jede Kultur hat Einfluss auf die Persönlichkeit und Identität eines Menschen. 

Ich kann mich mit einer Gruppe identifizieren, d.h. ich fühle mich zugehörig. Die Neurobiologie hat festgestellt, dass sich das Wesen, die Persönlichkeit und somit die Identität verändert, sobald gewohnte Strukturen, Denkweisen und Handlungen verändert werden. Somit hat die Entscheidung, etwas zu verändern, Einfluss auf unsere Identität. 

Ich kann mich mit Einstellungen identifizieren und werde mich in Gesellschaft gleich oder ähnlich denkender Menschen sehr wohl fühlen. Durch die Anerkennung der hier geltenden Normen und Werte entwickelt sich eine soziale Identität

Jugendliche sind auf der Suche nach sich selbst und werden manchmal durch die Gesellschaft in Rollen gedrängt, die sie gar nicht haben wollen, bzw. die nicht ihrem Wesen entsprechen. Daraus bildet sich ihre – in dem Fall eventuell falsche - Identität, die später vielleicht auch wieder abgelegt wird, weil sie nicht passt. 

Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Wesen, der Persönlichkeit und somit der Identität führen zu Authentizität und einem Zeigen, wer ich wirklich bin. 

Die heutige Zeit erschwert es manchmal, zur eigenen Identität zu kommen. Die Welt ist flüchtig, zum Teil unsicher und ambivalent und sehr komplex im Sinne von vielfältig. Umso wichtiger ist es, sich mit verschiedenen „Fähigkeiten“ zu rüsten: 

Resilienz als Fähigkeit, mit den Anforderungen fertig zu werden, Beziehungsfähigkeit als wichtige Säule der Identität, ein Stück Achtsamkeit, die hilft, wieder zu sich selbst zu finden und das Bewusstsein der eigenen Identität und Persönlichkeit

Bei der Auseinandersetzung mit der Identität erscheint mir das Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung von Erik H. Erikson und seiner Ehefrau Joan Erikson wichtig, da er Identität folgendermaßen definiert: „Identität ist der Schnittpunkt zwischen dem, was du sein willst, und dem, was die Welt dir gestattet zu sein.“

Erikson teilt die Entwicklung in 8 Stufen ein, und ich möchte hier nur die Lebensjahre und das dazugehörige Gefühl anführen:[1]

  • 1. Lebensjahr:Ich bin, was man mir gibt.“ Gekoppelt mit dem Gefühl des Urvertrauens.

  • 2. - 3. Lebensjahr:Ich bin, was ich will.“ Hier geht es um die zunehmende Autonomie des Kindes und der Entdeckung seiner selbst.

  • 3. – 6. Lebensjahr:Ich bin, was ich mir vorstellen kann, zu werden.“ In dieser Phase entwickelt sich z.B. das Gewissen.

  • 4. Lebensjahr – Pubertät:Ich bin, was ich lerne.“ Geprägt vom Bedürfnis, etwas Gutes zu machen.

  • Jugendalter:Ich bin, was ich bin.“ Die Jugendlichen fügen all ihr Wissen über die Welt zusammen und formen sich so ein Bild von sich selbst.

  • Frühes Erwachsenenalter:Wir sind, was wir lieben.“ Hier ist die Identität gefestigt und die Werte sind ausgeprägt.

  • Erwachsenenalter:Ich bin, was ich bereit bin zu geben.“ Das soziale Engagement in dem Sinn, was der nächsten Generation dienlich sein könnte, ist ausgeprägt.

  • Reifes Erwachsenenalter:Ich bin, was ich mir angeeignet habe.“ Im Sinne von Lebensweisheit.

Eine sogenannte Ich-Identität kann in der Jugend erstmals entwickelt werden. Ein Jugendlicher gilt dann als erwachsen, wenn er eine eigene Identität aufgebaut und Autonomie entwickelt hat.

Vielleicht kennen Sie das Modell der 5 Säulen der Identität des Psychologen Hilarion Petzold. Er hat herausgefunden, dass das Leben des Menschen auf fünf tragende Bereiche aufgeteilt ist:

5 saeulen der identitaet sb

Die Leiblichkeit, die sozialen Beziehungen, das Thema Arbeit und Leistung, die materielle Sicherheit sowie Werte und Ideale.

Das Dach dieses „Lebenstempels“ steht für die eigene Identität, Zufriedenheit und das eigene Wohlbefinden. 

Die fünf tragenden Säulen stellen unterschiedliche Bereiche eines Lebens dar:

  • Leiblichkeit: mentale und körperliche Gesundheit
  • Soziales Netz: Familie, Partnerschaften, Freunde und alle weiteren sozialen Kontakte
  • Arbeit & Leistung: Anerkennung, Erfolgserlebnisse und „Tätig-sein“, inkl. Ehrenamtstätigkeiten
  • Materielle Sicherheit: Lebensstandard, Konsumverhalten und finanzielle Absicherung
  • Werte: Die Frage nach dem Sinn, Spiritualität und persönliche Lebensphilosophien

Es ist wichtig, die fünf Säulen zu pflegen, sodass sie stabil sind und bleiben. Wenn eine der Säulen zusammenbricht, ist es wichtig, diese wieder zu stärken und aufzubauen. Kurzzeitig können andere Säulen deren Funktion jedoch ausgleichen, wie z.B. bei einer Arbeitslosigkeit, wo evtl. sogar zwei Säulen wackeln, nämlich die der Arbeit und die der materiellen Sicherheit. 

Ein weiteres Modell, sich der Frage, wer man ist, zu nähern finden wir bei den  16 Lebensmotiven von Steven Reiss.

Die folgenden 16 Lebensmotive beeinflussen unsere Persönlichkeit je nach ihrer individuellen Ausprägung. Dieses Modell hilft uns, unser Leben besser zu verstehen und damit auch zu gestalten und weiters, auch Andere besser zu verstehen, was wiederum der Gesellschaft dient. 

  • Macht - Bedürfnis, andere zu beeinflussen
  • Unabhängigkeit – Bedürfnis nach Eigenverantwortlichkeit
  • Neugier – Bedürfnis nach Wissen
  • Anerkennung – Bedürfnis nach Einbeziehung
  • Ordnung – Bedürfnis nach Organisation
  • Sparen – Bedürfnis, Dinge zu sammeln
  • Ehre – Bedürfnis der Loyalität der Familie gegenüber
  • Idealismus – Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit
  • Beziehung – Bedürfnis nach Gesellschaft
  • Familie – Bedürfnis nach Kindern
  • Status – Bedürfnis nach sozialer Anerkennung
  • Rache/Wettbewerb – Bedürfnis mit jemanden abzurechnen oder sich zu vergleichen
  • Sinnlichkeit – Bedürfnis nach Sexualität und Schönheit
  • Essen – Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme
  • Körperliche Aktivität – Bedürfnis nach Muskelbetätigung
  • Innere Ruhe – Bedürfnis nach emotionaler Gelassenheit

Laut Studien besitzt fast jeder Mensch diese 16 Bedürfnisse, wobei sie in unterschiedlicher Ausprägung vorkommen und sich auch unterschiedliche Motivationen und Folgehandlungen daraus entwickeln können.

Ähnlich dieses Modelles gibt es noch ein weiteres, das ich gerne anführen möchte, nämlich die Lebenszentren nach St. Covey, s.a. Klingenberger&Zintl:

lebenszentren nach st covey

Auch hier geht es um identitätsprägende Bereiche, die mehr oder weniger gut abgedeckt sind. Hier macht es Sinn, darüber nachzudenken, wie weit diese Bereiche gesättigt sind oder nicht. In der  Auseinandersetzung mit den Lebenszentren kommen Sie Ihrer eigenen Identität wieder ein Stück näher. 

Praktische Übungen: 

In Gruppen, deren Mitglieder sich gerne ihrer Identität weiter nähern wollen, macht es manchmal Sinn, vorab eine kleine Aufgabe zu geben, wie z.B.: „Nehmen Sie einen Gegenstand mit, der Ihrem Wesen entspricht.“ Aus der Erzählung rund um diesen

Gegenstand können andere Menschen schon einige Wesenszüge dieses Menschen kennenlernen und somit einen Teil seiner Identität.

Umgekehrt geht diese Übung auch, in dem die Aufgabenstellung heißt: „Bringen Sie einen Gegenstand mit, der Ihrem Wesen überhaupt nicht entspricht.“

Wie identisch fühle ich mich derzeit mit dem Leben, das ich führe? Fühle ich mich wohl in meiner eigenen Haut? – Dies sind weitere Fragen, die uns dem Thema „Identität“ praktisch näherbringen.

Autor: Erika Ramsauer, MTD, psychologische Beraterin, Coach, Supervisorin und Buchautorin
Thema: Wer bin ich wirklich?
Webseite: https://www.erikaramsauer.at

Weiterführende Literatur:

  • Klingenberger, Hubert & Ramsauer, Erika (2017). Biografiearbeit als Schatzsuche: Grundlagen und Methoden. Für Erwachsenenbildung und Beratung. München: Don Bosco.
  • Krelhaus, Lisa (2011). Wer bin ich – wer will ich sein?: Ein Arbeitsbuch zur Selbstanalyse und Zukunftsgestaltung. München: mvg. (7. Auflage)
  • Reiss, Steven (2009).Wer bin ich und was will ich wirklich: Mit dem Reiss Profile die 16 Lebensmotive erkennen und nutzen. München: Redline.

Quellenangaben:

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