Wie äußert sich ein Entwicklungs- und Bindungstrauma?

Bevor ich beschreibe, wie ein Entwicklungstrauma („Traumabedingte Entwicklungsstörung“) entsteht, möchte ich zuerst einmal die Folgen schildern, unter denen ein erwachsener Mensch aufgrund dessen leiden kann.

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Entwicklungstraumata behindern die ungestörte und gesunde Entwicklung eines Kindes. Traumatisierende Umstände können zum Beispiel Vernachlässigung, Misshandlung, Verlust oder Stress (auch schon im Mutterleib) sein. Dies wirkt sich auf die Hirnentwicklung und auf bestimmte Gene des Kindes aus.

Die Folgen, die ein Entwicklungstrauma nach sich zieht, sind oftmals übersehen, nicht offensichtlich oder werden falsch interpretiert. Ein Entwicklungstrauma, aber auch ein Bindungstrauma, beeinflusst die Art und Weise, wie der Betroffene heutige Beziehungen lebt und gestaltet, sowohl zu sich selbst als auch zu anderen. Und wie sehr er in der Lage ist sich selbst zu regulieren. Aufgrund der Dynamiken, die ich später noch beschreiben werde, prägen sich verschiedene dysfunktionale Muster in unser Nervensystem ein. Eventuell nimmt der von Kindheitstrauma betroffene Mensch selbst wahr, dass er sich nicht gut regulieren kann, er sich grundlegend über- oder untererregt fühlt, Ängste hat, Spannungen und Unruhe im Innern herrschen. Auch das latente Gefühl, sich nicht wohl oder sicher zu fühlen, nicht am richtigen Platz zu sein, kann Folge von Entwicklungstrauma sein.

Ein Entwicklungstrauma kann weitreichende, auch eher subtile, Folgen haben. Eine Folge kann sein, dass der betroffene Mensch eventuell ein eher negatives Welt- und Selbstbild hat. Vielleicht empfindest dieser die Welt oder die Menschen nicht als sicher. Wenn man durch ein Entwicklungstrauma keine gesunde Selbstregulation lernen konnte, dann ist man abhängig davon, dass ein anderer Mensch hilft und reguliert. Auch der Zustand, sich selbst unter vielen Menschen noch einsam und nicht zugehörig zu fühlen, kann Trauma-Folge sein. Ebenso das Leiden unter Bindungslosigkeit oder unter dem Konflikt zwischen Scheinautonomie und Bindung.

So kann es sein, dass zum Beispiel eine tiefe Sehnsucht nach einer Partnerschaft besteht, gleichzeitig aber Bindung eher vermieden wird oder eine feste Bindung Angst auslöst. Auch das Gefühl nicht geborgen zu sein und Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle können Folgen von Entwicklungs- oder Bindungstraumata sein.

Weiterhin kann sich ein Entwicklungstrauma dahingehend zeigen, dass sich daraus eine mangelnde Körperwahrnehmung und körperliche Entfremdungsgefühle (oder Dissoziation – eine Abspaltung vom Körper) entwickeln. Also Probleme mit dem eigenen Körper. Auch das Flüchten in die Spiritualität um dort nach Halt zu suchen der im eigenen Innern nicht vorhanden ist, kann Traumafolge sein. Manchmal empfinden betroffene Menschen eine ungerichtete Wut. Ursache der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist oftmals eine frühe Traumatisierung auf Bindungs- und Entwicklungsebene.

Wie äußert sich ein Entwicklungstrauma speziell bei Kindern?

Kinder, die unter Entwicklungstrauma leiden, haben oft Probleme in der Konzentrationsfähigkeit, in der Selbstregulation, der Selbstberuhigung, im Ausdrücken-können eigener Gefühle und im Umgang mit sich selbst und anderen Menschen. Durch die Veränderung im Stresshormonhaushalt, können ebenfalls Symptome wie Kopf- und Bauchschmerzen, Probleme beim Schlafen oder Symptome die dem Phänomen der Hochsensibilität ähneln, auftreten. Weitere Auffälligkeiten können sein: Bindungsstörungen, Trennungsangst, Anklammern, Depressionen, Ängste, ADHS, Verhaltensauffälligkeiten, Selbst- und Fremdaggressionen und mangelnde Empathie (Vgl. Verena König „Bin ich traumatisiert?“ 2021)

Wie entsteht ein Entwicklungstrauma?

Ein Entwicklungs- und Bindungstrauma entsteht sehr früh im Leben eines betroffenen Menschen und hat mit den Bindungspersonen zu tun. Der Mensch ist von Natur aus ein stark auf Bindung ausgerichtetes Wesen. Schon allein deshalb, weil er als Neugeborenes nicht überleben könnte, würden sich nicht die Bezugspersonen kümmern.

baby schlaeft mutter

Dadurch ist ein Neugeborenes oder ein Kind stark verletzlich. Unser autonomes Nervensystem, auch schon im Mutterleib, ist mit einem Stresssystem verkoppelt. Ein Baby empfindet Stress zum Beispiel beim Empfinden von Hunger, Kälte, Alleinsein usw. Geht es dem Baby oder Kind gut, d.h. werden seine Bedürfnisse versorgt, dann befindet es sich innerhalb des Stresstoleranzfensters. Das geschieht dann, wenn es die Bindungsperson co-reguliert. Sobald das kleine Wesen in Stress und damit an den oberen Rand des Stresstoleranzfensters oder darüber hinaus gerät, geschieht Co-Regulation* durch Mutter oder Vater. Dies kann zum Beispiel durch liebevolle Zuwendung, Wärme, einfühlsame Kommunikation, Körperkontakt oder durch Füttern geschehen. Dadurch kann das Stressniveau im Kind wieder sinken, ein Zurückkommen ins Stresstoleranzfensters ist möglich. Ein Bindungstrauma entsteht dann, wenn die Bindung zwischen Kind und Bezugsperson gestört wird, z.B. durch Verlust oder Gewalt der Bindungsperson. Die Bindung und nachfolgend Bindungsfähigkeit ist betroffen, es muss daraus aber kein Entwicklungstrauma entstehen. Gibt es andere Bezugspersonen, die das Kind auffangen und regulieren, so kann dies verhindert werden. Die Grenzen zwischen Bindungs- und Entwicklungstrauma sind fließend, weshalb sich der Begriff „Frühe Traumatisierung“ oder „Kindheitstrauma“ eher eignet. (Vgl. Verena König „Bin ich traumatisiert?“ 2021)

 *Co-Regulation ist eine Interaktion zwischen Kind und Bindungsperson, die es dem Kind ermöglicht sicher gebunden zu sein und sich zu trauen, die Welt zu entdecken, also auch Autonomie zu entwickeln. Co-Regulation ist geprägt von einem gesunden, wohlwollenden, unterstützenden und sicheren Verhalten der Bindungsperson.

Wenn keine Co-Regulation durch die Bindungsperson geschieht

Es kann aber leider sein, dass die Bindungspersonen diese Regulation nicht leisten können. Eventuell, weil sie selbst gerade im Stress oder selbst nicht reguliert sind. Ebenso kann es sein, dass sie nicht in der Lage sind feinfühlig mit dem Baby zu kommunizieren. So werden die Bedürfnisse des Kindes oder Babys schlimmstenfalls nicht erkannt und nicht versorgt. Auch starke Schmerzen oder Krankheiten im Säuglings- oder Kindesalter können diesen enormen Stress auslösen. Bei nicht vorhandener Regulation rutscht der Mensch aus dem Stresstoleranzfenster heraus und hinein in die Übererregung. Hier wäre Co-Regulation extrem wichtig, da jetzt nun auch Stresshormone ausgeschüttet werden. Dieser Zustand ist für das Baby oder Kind extrem bedrohlich. Findet keine Co-Regulation statt, so prägt sich diese Erfahrung tief in das Nervensystem ein. In diesem Zustand wird viel Überlebensenergie mobilisiert, die ohne Co-Regulation nicht aufgelöst wird. Sie bleibt im Nervensystem stecken. Wenn sich ein Kind immer wieder in diesen dysregulierten Zuständen befindet, entwickelt sich eine Stressdynamik im Nervensystem. Alleingelassen außerhalb des Stresstoleranzfensters zu sein, kann potentiell traumatisierend sein. In fast jedem Leben hat es solche Situationen schon gegeben.

Was können potentiell traumatisierende Situationen sein?

Solche Stresssituationen im Baby- oder Kindesalter können zum Beispiel Trennungen von der Bezugsperson sein. Beispielsweise, wenn die Mutter ins Krankenhaus muss oder das Kind selbst und plötzlich allein ist. Auch wenn man sich nicht mehr explizit an solche Situationen erinnern kann (denn das explizite Gedächtnis beginnt erst ab dem 3. Lebensjahr), so ist es aber im impliziten Gedächtnis, dem Körpergedächtnis, gespeichert.

Auch das Schlaftraining, bei dem das Baby allein und schreien gelassen wird bis es still ist, kann eine Traumatisierung verursachen. Wenn ein Baby weint und schreit, drückt es damit sein Bindungsbedürfnis aus. Das ist ganz natürlich. Allein fühlt es sich in diesen Momenten nicht sicher und benötigt die Co-Regulation der Bindungsperson um einzuschlafen. Wenn niemand kommt um es zu trösten, steigt das Stressniveau im Körper des Babys so stark, dass es außerhalb des Stresstoleranzfensters gerät.  Der Körper wird dann geflutet von Stresshormonen. Dieser Zustand prägt sich ins System ein. Hört ein Baby bei diesem Schlaftraining dann tatsächlich auf zu weinen, so ist dies kein Erfolg des Schlaftrainings. Das Baby erlebt große Ohnmacht und rutscht in die totale Erschöpfung und Resignation. Anstatt Ruhe und Erholung, steckt Stress im System. Der Cortisol-Spiegel bleibt weiterhin hoch. Das Baby verhält sich ruhig, der kleine Körper aber ist im Hochstress. Das Baby ist allenfalls in die absolute Untererregung gerutscht. Glaubenssätze die daraus entstehen können und im Erwachsenenleben wirken sind: „Ich bin nicht sicher“, „Ich bin allein gelassen.“, „Ich werde nicht gesehen“, „Ich bin hilflos“ oder „Ich kann mich auf niemanden verlassen, ich mache besser alles alleine.“

Die sichere Bindung wird durch so ein Schlaftraining oder durch fehlende Co-Regulation gestört. Bindung wird dann als nicht mehr sicher erlebt. Als nicht mehr zuverlässig. Die mobilisierte Energie bleibt im Stresssystem stecken und erhalten. Eine latente Spannung wird sich im Nervensystem einprägen. Diese kann dann später getriggert werden.

Genauso kann es an Co-Regulation mangeln, wenn die Bezugsperson emotional nicht verfügbar oder nicht zuverlässig ist. Zum Beispiel wenn ein Elternteil an Süchten, Bipolarer Störung oder Depressionen leidet und nicht zuverlässig für das Kind da ist.

Entwicklungstrauma und Folgen auf Bindungsebene zusammengefasst

Noch einmal ganz kurz zusammengefasst heißt das: Traumatisierungen auf Bindungsebene in dieser verletzlichen Phase der kindlichen Entwicklung entstehen durch fehlende oder mangelnde Co-Regulation (Bindungstrauma). Frühe Traumatisierungen, z.B. durch Stress, Vernachlässigung, Verlust oder Misshandlungen haben großen Einfluss auf die Entwicklung von Psyche, Seele und Körper des Kindes. (Vgl. Verena König 2021) Die Erfahrungen die ein Kind macht, wirken sich auf die Entwicklung seiner Verarbeitungs- und Wahrnehmungsfähigkeiten aus (Entwicklungstrauma).

kind eltern schatten farbige haende

Hat ein Mensch dies erlebt, dann kann es sein, dass er als Kind oder erwachsener Mensch Verlustängste hat. Trennungen lösen dann eventuell „Todesangst“ aus. So intensiv können die getriggerten Zustände sein. Ich erinnere noch einmal daran: Die Überlebensenergie von damals steckt in diesen Zuständen. Diese frühe Prägung kann sich auch in einer Angst vor dem Verlassenwerden oder vor dem Alleinsein bemerkbar machen. Oder es kann sein, dass der Mensch immer wieder hilflos und ausgeliefert fühlt.  

Wie kann man nun von Entwicklungstrauma oder Bindungstrauma heilen?

Es ist sinnvoll, sich die eigene Biografie einmal liebevoll anzuschauen. Welche Bindungserfahrungen hat man gemacht? Waren das sichere oder unsicher Bindungserfahrungen? Oder waren sie ambivalent und dadurch unsicher? Welche Situationen, in denen man nicht reguliert worden ist, hat man erleben müssen? Vieles kann nicht explizit erinnert werden, denn es ist im Körpergedächtnis, im impliziten Gedächtnis, gespeichert. Aber es ist auch nicht notwendig traumatische Erlebnisse zu erinnern oder gar noch einmal zu durchleben. Heilung beginnt, wenn sich der betroffene Mensch sich selbst liebevoll und verständnisvoll zuwendet. Wenn sich die Selbsterkenntnis erhöht und das Verständnis für eigene Verletzungen und Muster, ist damit schon ein wichtiger Schritt getan.

Warum es wichtig ist Selbstregulation nachzulernen

Frühe Traumatisierungen, v.a. diese auf Bindungsebene, können nur in Interaktion mit anderen Menschen heilen. Denn Bindungstrauma ist in Beziehung geschehen und kann auch nur in Beziehung wieder heilen. Es ist wichtig, mit neuen, nahestehenden Menschen korrigierende Erfahrungen zu machen. Diese Erfahrungen können am sichersten in einer traumasensibel gestalteten Therapie oder im traumasensiblen Coaching geschehen, oder mit Menschen die ausnahmslos sicher sind.

Es ist auch wichtig, sich dem eigenen Körper und seinen Empfindungen wieder zuzuwenden. Achtsame Körperwahrnehmung ist hier wichtig. Wenn sich die Achtsamkeit für sich selbst erhöht, gewinnt der Mensch an Stabilität. Es wird dann leichter fallen, den Platz im eigenen Leben einzunehmen und die eigenen Grenzen zu spüren.

Alles was das Nervensystem beruhigt und Freude bringt ist heilsam. Bei Fragen zum Thema oder als traumasensible Coachin stehe ich gern zur Verfügung. Ich wünsche viel Kraft, Mut, Geduld und gute Ressourcen auf dem eigenen und individuellen Weg die Folgen früher Traumatisierung zu heilen. Herzlichst, Karoline Kalbitz

Mehr Informationen über das Nervensystem, zusammenhängende Symptome und Selbstregulation gibt es in meinem E-Book „Symptome verstehen und heilen – Regulation dient deiner Heilung“ auf der Website.

Autor: Karoline Kalbitz, Heilpraktikerin für Psychotherapie
Thema: Entwicklungstrauma
Webseite: https://karolinekalbitz.de

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