Wie entsteht Magersucht

Die Magersucht ist eine Erkrankung, die in unserer Gesellschaft immer mehr zunimmt. Ärzte, Psychologen, Therapeuten und die Eltern von Betroffenen stellen sich unter verschiedenen Blickwinkeln die Frage was ursächlich dafür ist, dass immer mehr Mädchen und zunehmend sogar Jungen erkranken.

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Wie kommt das? Ist Magersucht eine Modekrankheit? Was steckt dahinter? Wie entsteht überhaupt eine Magersucht?

Gründe für die Entstehung von Magersucht

Psychologen sind der Ansicht, dass das Internet stark dazu beiträgt, dass die Magersucht zunimmt und eine Überwertigkeit auf den Körper gelegt wird. Junge Menschen werden mit idealisierten und manipulierten Bildern in den Medien konfrontiert. In Zeiten unzähliger Diäten – einem Schlankheits- und Schönheitswahn – ist das Thema aktuell wie nie zuvor.

Viele Menschen haben schon mal eine Diät gemacht oder sich zu dick befunden. Das gab es früher genauso wie heute. Durch die Medien kommt jedoch ein neues Phänomen hinzu: Junge Menschen retuschieren die Fotos ihres eigenen Körpers, bevor sie diese online stellen. Vor allem Mädchen befassen sich stark mit ihren vermeintlichen Mängeln, fokussieren sich auf Negatives statt Positives. Gleichzeitig sehen sie bei ihren Freundinnen retuschierte Bilder, was den Druck erhöht. Waren es früher Models oder Filmstars, so sind es heute Menschen im unmittelbaren Umfeld, mit denen sie sich vergleichen. Doch das ist nur ein Aspekt. Die Ursachen von Essstörungen sind hochkomplex und vielschichtig. Im Folgenden möchte ich die Krankheit erstmal genauer erklären und definieren.

Diagnosekriterien für Magersucht – Anorexia nervosa

Magersucht heißt im Fachbegriff Anorexia nervosa. Laut ICD 10, der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen, in denen die klinisch-diagnostischen Leitlinien benannt sind, wird diese Krankheit folgendermaßen definiert:

Die Anorexia ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten oder aufrechterhaltenen Gewichtsverlust charakterisiert. Am häufigsten ist die Störung bei heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen. Es können jedoch auch Jungen und junge Männer, im Einzelfall auch Kinder vor der Pubertät und Frauen bis zur Menopause betroffen sein.

Die Krankheit ist mit einer spezifischen Psychopathologie verbunden. Die Angst vor einem dicken Körper und einer schlaffen Körperform besteht als eine tief verwurzelte, überwertige Idee. Die Betroffenen legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst fest.

Das tatsächliche Körpergewicht liegt mindestens 15 Prozent unter dem Normalgewicht oder einem BMI von weniger als 17,5.

skulptur magersucht

Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von hochkalorischen Speisen sowie folgenden Verhaltensweisen:

  • Eingeschränkte und extrem kontrollierte Nahrungsaufnahme
  • Übertriebene körperliche Aktivität
  • Selbst induziertes Erbrechen
  • Missbrauch von Abführmitteln
  • Gebrauch von Appetitzüglern und Diuretika
  • Ständiges Kreisen der Gedanken um Nahrung und Gewicht
  • Starke Angst vor Gewichtszunahme

Körperschema-Störung in Form einer spezifischen psychischen Störung: Die Betroffenen erleben sich als zu dick, gleichwohl sie real vielleicht sehr, sehr dünn sind. Es besteht eine Leibgefühlsstörung, eine krankhaft verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers.

Es besteht in Folge keine Krankheitseinsicht.

Es besteht eine endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse. Diese manifestiert sich bei Frauen als sekundäre Amenorrhoe – also einem Ausbleiben der Regelblutung – und bei Männern als Libido- und Potenzverlust.

Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt. Es tritt beispielsweise ein Wachstumsstopp ein, die Brustentwicklung findet nicht statt, eine primäre Amenorrhoe ist vorhanden, das bedeutet, die Periode setzt erst gar nicht ein. Bei Knaben bleiben die Genitalien kindlich.

Diagnostisch wird differenziert zwischen einer Anorexie des restriktiven Typs ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen) und einer Anorexie des aktiven Typs mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc. unter Umständen mit Heißhungerattacken).

Die Diagnose kann nur nach eingehender Anamnese, körperlicher und psychiatrischer Untersuchung, Beobachtung des Essverhaltens, möglicher testpsychologischer Verfahren und dem Ausschluss anderer organischer Erkrankungen von Ärzten gestellt werden. 

Ursachen für die Entstehung einer Magersucht

Essstörungen sind multifaktoriell bedingt und haben somit viele Ursachen. Sie entstehen durch ein komplexes Zusammenspiel diverser Faktoren.

Daher sollten weder Betroffene noch Angehörige, Eltern oder der Partner sich fragen, ob sie Schuld an der Entstehung der Essstörung haben. Die Schuldfrage ist im Heilungsprozess nicht fördernd. Die Suche nach den Ursachen ist jedoch höchst notwendig, um die Entstehung der Krankheit zu verstehen und diese langfristig positiv verändern zu können.

Einige potenzielle Ursachen der Krankheit sollen im Folgenden aufgezeigt werden:

Biologische Ursachen

  • Genetische Disposition
  • Einfluss bestimmter Neurotransmitter
  • Individuelles Normalgewicht ist genetisch bedingt

 

Individuelle Ursachen

  • Geringes Selbstwertgefühl
  • Hoher Perfektionsanspruch
  • Hoher Leistungsanspruch
  • Hohes Kontrollbedürfnis
  • Geringe Konfliktfähigkeit
  • Traumatische Erlebnisse, wie beispielsweise sexueller Missbrauch
  • Probleme bei der Stressbewältigung

 

Familiäre Ursachen

  • Psychische Erkrankung eines Elternteils
  • Fehlende Streitkultur
  • Unterdrückung von negativen Gefühlen
  • Problematische Ablösungsprozesse von den Eltern, beispielsweise hohe Kontrolle durch die Eltern
  • Übernahme von zuviel Verantwortung durch das Kind, z. B. nach einer Scheidung der Eltern

 

Soziokulturelle Ursachen

  • Vorherrschendes Schönheitsideal durch die Medien
  • Thematisierung von Essen, Figur, Gewicht, Aussehen unter Gleichaltrigen
  • Vergleich unter Gleichaltrigen
  • Mobbing, Abwertung, negative Kommentare

Die vielfältigen Ursachen zeigen auf, wie komplex dieses Krankheitsbild ist und wie differenziert es im Einzelnen betrachtet werden muss. Daher braucht es ein multimodales Behandlungsmodell. Zunächst möchte ich aber noch etwas tiefer auf die tiefenpsychologischen Ursachen der Magersucht eingehen.

Psychodynamik der Magersucht

Der Begriff Psychodynamik wird verwendet, um die Auswirkungen intrapsychischer – also innerseelischer – Prozesse auf das Erleben und Verhalten des Menschen zu beschreiben. Man könnte es auch so ausdrücken, dass die Psychodynamik die Auswirkungen seelischer Prozesse auf das Bewusstsein und das Unterbewusstsein benennt. Die Anorexia nervosa ist eine psychosomatische Störung. In der Regel sind es seelische Konflikte und Spannungen, die die Betroffenen dazu treibt, trotz großen Hungers das Essen zu verweigern.

Es ist nicht ganz einfach, die vielfältigen Ursachen und psychologischen Aspekte aufzuspüren, die beim Einzelnen zur Ausbildung einer Magersucht führt. Dennoch lassen sich bei vielen Betroffenen psychodynamische Hintergründe erfassen. Ein Auslöser kann beispielsweise eine entwicklungsbedingte Anforderung oder Veränderung sein, wie der Schulwechsel oder der Beginn einer Ausbildung. Auch körperliche Veränderungen in der Pubertät können Auslöser für innere Konflikte sein, zum Beispiel die Ablösung von den Eltern, das Entwickeln eigener Werte, zugleich die Angst vor Autonomie und Eigenverantwortung.

Das Abmagern kann auch Ausdruck der Ablehnung des weiblichen Körpers und der weiblichen Rolle sein. Die Entwicklung zu einer erwachsenen Frau führt zwangsläufig zu einer Ablösung von den Eltern. Die Betroffenen haben oft Angst davor, den Schutz zu verlieren, auf eigenen Beinen zu stehen und lehnen deshalb das Erwachsenwerden ab. Die körperliche Reifung führt ferner dazu, dass die Mädchen ihrer Mutter ähnlicher werden. Die Weiblichkeit aber wird im Unterbewusstsein vielleicht abgelehnt. Die betroffenen Mädchen wollen nicht zur Frau werden und versuchen durch Hungern den Körper an der Ausbildung typischer weiblicher Formen zu hindern. Ähnliches gilt entsprechend für Jungen, die diese Erkrankung bekommen. Aus tiefenpsychologischer Sicht wird oft die sich entwickelnde Sexualität unbewusst abgelehnt. Die Mädchen oder Jungen übertragen diese auf den oralen Bereich – den Bereich des Mundes und der Nahrungsaufnahme – und versuchen diese natürliche Entwicklung durch Nahrungsverweigerung zu bekämpfen.

Die Enthaltsamkeit, ja gleichsam Askese wird meist als Stärke empfunden. Somit müssen sich die Magersüchtigen den sich verändernden Anforderungen und Bedürfnissen nicht stellen. Dem liegt die Angst zugrunde, Veränderungen nicht gerecht zu werden oder auch eigene Bedürfnisse nicht erfüllt zu bekommen, was als Schwäche wahrgenommen würde. Ihre Reaktion ist das eigene Erzwingen von Askese. So entsteht die Wahrnehmung von großer Stärke und Autonomie. Somit wird ein Selbstwertdefizit kompensiert und einem Kontrollverlust entgegengewirkt. Eigene Bedürfnisse und Ansprüche werden abgelehnt und bekämpft.

Ein weiterer und im psychodynamischen Sinne essenzieller psychologischer Aspekt ist die Verwendung des eigenen Körpers als Objekt. Der abgezehrte Körper wird als Objekt empfunden, dessen Besitz ein Gefühl der Macht und Kontrolle verleiht. Eine Gewichtszunahme würde eine Zerstörung dieses wertvollen Objekts bedeuten und wird daher vermieden. Außerdem fördert die Macht über das Objekt Körper Gefühle von Selbstbestimmung und Autonomie.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich in der Anorexia nervosa ein Autonomie-, Abhängigkeitskonflikt spiegelt und der Körper als Objekt behandelt und somit kontrolliert wird.

Natürlich kommen diese Aspekte der Psychodynamik nicht bei allen Betroffenen vor. Oft aber sind einzelne Aspekte oder auch mehrere davon vorherrschend.

Behandlung und Therapie von Magersucht

Ein grundlegendes Problem der Therapie von Magersucht ist, dass die Betroffenen ihre Krankheit nicht als Problem, sondern vielmehr als Lösung ihres Problems sehen.

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Unsicherheiten und Mängel der eigenen Identitätsentwicklung wirken sich in der Krankheit durch die Verneinung eigener Bedürfnisse aus und sind identitätsfördernd. Die Lebensweise der Askese wird zum Ideal erhoben. Aus diesen Gründen bestehen meist kein Krankheitsgefühl und keine Krankheitseinsicht. Die Therapiemotivation ist somit eher gering.

Ziel der vorbereitenden Gespräche vor der eigentlichen Psychotherapie ist daher, sich mit der oder dem Betroffenen darauf zu verständigen, dass das magersüchtige Verhalten Ausdruck einer psychischen Notlage ist, dessen psychotherapeutische Bearbeitung effektiv sein kann.

Multimodale Behandlungskonzepte

Die Behandlung der Magersucht basiert in der Regel auf mehreren Säulen. Sie besteht aus einer somatischen Therapie, einer Ernährungstherapie und einer Psychotherapie.

In akuten Fällen und bei massiver Gewichtsabnahme ist eine jugendpsychiatrische oder psychosomatische Klinik der beste Weg. Hier werden die Betroffenen multimodal medizinisch, psychiatrisch und psychotherapeutisch behandelt und unterstützt.

Auch gibt es spezielle therapeutische Wohngruppen für Menschen mit Essstörungen. Der Vorteil ist, dass Menschen sich in einem geschützten Umfeld ausprobieren können. Sie werden einerseits unterstützt, lernen andererseits aber Schritt für Schritt mehr Eigenverantwortung, wieder Schritte in den Alltag zu setzen. Der Austausch mit anderen Betroffenen, das gemeinsame Kochen, Essen, erfüllende Aktivitäten fördern das Gemeinschaftsgefühl, eine Balance von Nähe und Distanz und eine bessere Regulation dieser beiden Kernbedürfnisse.

Eine Psychotherapie sollte – sofern das im sozialen Kontext der Patientin oder des Patienten machbar und angemessen ist – unter Einbezug der Familie stattfinden. Dies ist eine tragende Säule und bietet ursächliche Hilfe in der Behandlung einer Magersucht. Nicht immer müssen familientherapeutische Maßnahmen angewandt werden. Im ersten Schritt ist Aufklärung an die Eltern wichtig, dass diese nicht die Schuld bei sich selbst suchen. Denn sonst fördert das die negative Spirale. Vielmehr gilt es zu erfassen, dass die Gründe vielfältig sind und die Familie Wesentliches zur Überwindung der Krankheit beitragen kann. Es gilt zu lernen, Gefühle auszudrücken, Konflikte anzusprechen, Lösungen zu suchen, wo bisher Sprachlosigkeit vorherrschte.

Eine relativ neue Psychotherapieform, die sehr wirksam in der Behandlung von Essstörungen eingesetzt wird, ist die Schematherapie. Diese sehr erfolgreiche Art von Psychotherapie hat sich aus der kognitiven Verhaltenstherapie entwickelt und integriert Elemente der Psychodynamik, Objektbeziehungstheorie und Neurobiologie. Sie ist sehr anschaulich, alltagsnah, wirksam und für junge Menschen leicht verständlich.

Die Schematherapie verwendet eigene Begrifflichkeiten, wie das Schema und den Modus. Ein Schema ist das Ergebnis ungünstiger Erfahrungen als Kind und Jugendlicher und entsteht durch die wiederholt fehlende Befriedigung von kindlichen Grundbedürfnissen. Wenn beispielsweise ein Kind nur dann Zuwendung bekommt, wenn es gute Schulnoten liefert, dann wird dieses Kind als Jugendlicher oder Erwachsener die Überzeugung entwickeln, dass man sich Zuneigung verdienen muss und nur liebenswert ist, wenn man Höchstleistungen in Schule und Beruf bringt. Diese überzogenen Leistungsansprüche können später sogar in einen Erschöpfungszustand oder ein Burnout führen, der als Resultat der Anstrengungen eine verringerte Leistungsfähigkeit zur Folge hat.

In der Schematherapie sprechen wir dann von einer Lebensfalle, in die der Erwachsene immer wieder hinein läuft und somit immer wieder dieselben negativen Erfahrungen macht. Unglücklicherweise bleibt dieses Schema – das tief im Unterbewusstsein angelegt ist und immer wieder genährt wird – stabil, da die Leistungen subjektiv nie genügen. Die Spirale verstärkt sich immer mehr.

Wird dieses Schema durch eine bestimme Auslösesituation aktiviert, beispielsweise eine Prüfung in der Schule oder Uni, so entsteht ein unangenehmer Spannungszustand, der aus Gedanken, Gefühlen, Körperempfindungen und Handlungen besteht. Dies ist das Schema.

Es könnten selbstabwertende Gedanken entstehen, die Überzeugung dumm zu sein, Gefühle der Hilflosigkeit, Körperempfindungen wie ein Kloß im Hals, starke Anspannung oder massiver innerer Druck.

Die Handlungen in diesem aktivierten Modus wären dann:

  • Unterwerfung (sich seinem Schicksal ergeben und nur noch lernen)
  • Vermeidung (sich ablenken, trödeln, träumen, das Lernen verschieben)
  • Überkompensation (wütend auf die Schule werden, sich mit einem Lehrer anlegen, einen Schülerstreik organisieren).

In der Schematherapie werden diese Muster Schritt für Schritt besprochen, erarbeitet und transparent gemacht. Dann wird mit lösungsorientierten Methoden wie Stuhldialogen, Imaginationsübungen, Rollenspielen, Kreativtherapien gearbeitet, um neue Wege gehen zu können und bessere Lösungen zu finden.

Autor: Silvana Schmitt
Thema: Wie entsteht Magersucht
Webseite: http://www.silvana-schmitt.de

Autorenprofil Silvana Schmitt:

Die Autorin Silvana Schmitt arbeitet seit mehr als 20 Jahren in eigener Praxis. Als Heilpraktikerin (Psychotherapie) und Dozentin in Deutschland und der Schweiz hat sie ein eigenes Therapie- und Ausbildungskonzept entwickelt, die Holistische Psycho-Kinesiologie. Diese impliziert lösungsorientierte Ansätze aus der Psychodynamik, Tiefenpsychologie, Schematherapie und vernetzt diese integrativ. Frau Schmitt hat viel therapeutische Erfahrung in der Behandlung mit Essstörungen und gibt dieses Wissen in der Praxis und in Seminaren weiter.

#Ernährung, #Abnehmen, #Probleme, #Unzufriedenheit, #Zwangsverhalten

Expertenprofil:

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